30. Im Verlies
Borgun versuchte es mit aller Kraft, die Kette zu sprengen. Ein Eisenring war um sein rechtes Bein gelegt und mit einem primitiven, aber festen Schloss zusammengehalten. Die Kette mit daumengroßen Gliedern verband das mit einer Öse an der Wand. Der Reifen um sein Fußgelenk war eng und seine Versuche hatten ihm schon eine blutende Wunde eingebracht. Der Hüne war mehr als kräftig, aber er konnte dagegen nichts ausrichten und gab auf.
Die Wachen hatten sich nicht so viel Mühe mit Engelbert gemacht. Der konnte sich frei in der Zelle bewegen und nutzte es, um jede Ecke zu erforschen. Nur wenig Licht schien durch einen Schlitz unter der Decke. Es mochte derselbe Kerker sein, in dem schon Narda gefangen war. Er fand nichts, was ihnen helfen konnte. Strohsäcke als Nachtlager, ein Eimer für die Notdurft, aber nicht die Spur eines brauchbaren Werkzeugs.
Die Tür öffnete sich knarrend. Eine alte Frau trug einen Wasserkrug und eine Schüssel Getreidebrei hinein.
„Teilt es euch auf, so schnell gibt es nichts wieder!“, kommentierte der Wächter, der sie begleitet hatte, bevor er sie Tür wieder schloss.
Engelbert setzte sich zu Borgun. Sie verzehrten die Pampe mit bloßen Händen.
„Einen Löffel hätte ich gebrauchen können“, sagte Borgun.
„Die sind zu vorsichtig!“, antwortete Engelbert und führte den Krug zum Munde, um zu trinken. Er erschrak!
Im Krug war nicht nur Wasser, sondern etwas Hartes, Metallisches. Der Gefangene fischte ein Jagdmesser aus dem Gefäß.
„Besser als ein Löffel!“, bemerkte er und Borgun nickte.
Als von den Wachen nichts mehr zu hören war, begann Borgun, den gefundenen Schatz zu nutzen. Er stach die Spitze des Messers neben die Verankerung des Eisenrings in den Mörtel, gebrauchte es wie einen Meißel, aber er kam kein Stück voran.
Engelbert schlug ihm einen anderen Weg vor: „Die Klinge müsste in den Ring passen, dann kannst du sie als Hebel verwenden und ihn drehen!“
Borgun positionierte das Messer so, dass Klinge und Rücken den Ring berührten.
„Hoffentlich bricht es nicht, aber so könnte es gehen“, sagte er,
Mit aller Kraft drückte er gegen den Messergriff um den Ring nach links zu drehen, der bewegte sich nicht. Dann versuchte er es rechts herum, drückte sein ganzes Gewicht auf den Griff. Engelbert drückte zusätzlich darauf.
„Ich glaube, es hat sich ein bisschen bewegt! Versuchen wir es noch mal nach links“, sagte Borgun. Er zog das Messer heraus und steckte es von der anderen Seite in den Ring. Dann drückten beiden Männer wieder mit größter Kraft. Jetzt spürte es auch Engelbert. Der Ring bewegte sich, zwar nur ein winziges Stück, aber immerhin.
Sie wechselten immer wieder die Richtung und nach und nach vergrößerte sich der Winkel, den sich die Befestigung drehen ließ. Nach stundenlanger Arbeit in völliger Dunkelheit war aus dem kaum spürbaren Wackeln ein Viertelkreis an Beweglichkeit geworden. Es schien nur eine Frage der Zeit zu sein, bis sie ihn ganz lösen konnten. Jetzt war ihre Kraft erschöpft. Die beiden Männer schlangen den Rest des Breis hinunter und tranken das Wasser. Engelbert versteckte noch das Messer in seinem Strohsack, dann schliefen sie erschöpft ein.
Sie erwachten vom Knarren der Zellentür. Diesmal brachte die alte Frau ein Stück Brot und einen neuen Krug, wofür sie den alten mitnahm. Der grobschlächtige Wächter bemerkte zynisch „Wohl bekomms!“
Nachdem die Geräusche verklungen waren, machten die Gefangenen sich wieder ans Werk. Grad für Grad, immer ein bisschen weiter lockerte sich der Eisenring. Alles hing davon ab, ob er sich am Ende auch herausziehen lassen würde oder mit Widerhaken verankert war. Als es richtig hell war, aßen sie das Brot und tranken von dem Wasser, dann arbeiteten sie weiter bis zum Abend. Schließlich konnten sie den Ring ein Stück von der Wand wegziehen. Bardo setzte das Messer nun als Hebel gegen die Wand ein und zog am Griff, so stark er konnte.
Mit einem Ruck flog der Bolzen mit dem Ring aus der Wand. Borgun hatte zwar immer noch den Reifen mit der Kette am Bein, aber seine Bewegungsfreiheit war nun viel größer.
„Wie geht es weiter?“, fragte Engelbert.
Borgun antwortet: „Wenn der Wächter kommt, müssen wir ihn überraschen. Die Frau ist wohl harmlos oder sogar auf unserer Seite, ihr verdanken wir wohl das Messer.“
„Wir müssen wach sein, bevor sie kommen“, bemerkte Engelbert, „es muss so aussehen, als wärst du noch festgemacht. Ich halte das Messer hinter dem Rücken verborgen.“
„Ja“, Borgun stimmte zu, „wenn er in der Zelle ist, reiße ich mich los und lenke ihn ab, du erledigst ihn dann mit dem Messer. Es sollte keinen Lärm geben, denn draußen ist bestimmt noch eine Wache.“
Engelbert sagte: „Wenn wir den hier töten, aber nicht raus kommen, erwartet uns der Galgen!“
Borgun antwortete: „Du musst ihm von hinten die Klinge an den Hals setzen und ihm gleichzeitig den Mund zuhalten. Er muss wissen, dass er uns gehorcht oder sofort stirbt! Kriegst du das hin?“
Engelbert nickte und Borgun fuhr fort: „Wir lassen ihn seinen Kumpan hereinrufen, ich schlinge dem die Kette um den Hals. Es muss sehr schnell gehen!“
„Wir sollten jetzt schlafen“, sagte Engelbert. Er steckte das Messer so unter seine Liegestätte, dass er es beim Aufstehen sofort greifen konnte. Borgun schon den Befestigungsbolzen locker zurück in das Loch. Er gab sich selbst den Befehl, beim ersten Licht wieder aufzuwachen.
*
Das vertraute Knarren der Tür ertönte. Engelbert war auf den Beinen, bevor die Tür ganz offen war, das Messer hinter dem Rücken verborgen. Die Magd stellte ihren Krug und eine Schüssel ab, nahm den letzten Krug und sah sich um. Ihr Blick huschte unsicher zwischen den beiden Männern hin und her, so als wüsste sie, was sie planten.
Der Wächter trat ein und sah sich um. Als er sich Borgun zuwandte, riss der die Kette aus der Wand und schleuderte sie in seine Richtung. Sie war nicht lang genug, um ihn zu treffen, aber die Ablenkung genügte. Engelberts Klinge lag an seinem Hals und seine linke Hand hielt ihm den Mund zu.
„Ein Mucks und du bist tot“, flüsterte Bardo, „du bleibst am Leben, wenn du tust, was ich sage. Nicke, wenn du das verstanden hast!“
Engelbert erhöhte zur Bekräftigung den Druck des Messers. Der Wächter nickte langsam vorsichtig.
Borgun sprach leise weiter: „Tue so, als wäre alles in Ordnung. Du rufst deinen Kollegen herein, weil du ihm etwas zeigen willst. Mach es ordentlich, dann passiert euch beiden nichts!“
Der Wächter nickte noch einmal. Borgun stellte sich neben die geöffnete Tür, die Kette zwischen beiden Händen. Die Magd stellte sich gegenüber der Tür an die Wand.
Engelbert löste vorsichtig seine linke Hand vom Mund des Wächters, ließ ihn aber weiter die Messerklinge spüren.
„Komm mal her Kurt, das musst du dir ansehen!“, rief er, dann fühlte er wieder die Hand auf seinem Mund.
Eine zweite Wache trat durch die Tür. Es war ein Kerl, der sich mit dem Meister messen konnte, groß und massig, aber er rechnete nicht damit, dass Borgun frei war. Der schlang ihm die Kette um den Hals und zog zu, bis er sicher war, die Oberhand zu haben.
Engelbert nahm beiden ihre Schwerter ab und durchsuchte sie vergeblich nach Schlüsseln. Borgun lockerte die Kette und ließ dem Mann etwas Luft, er bedeutete der Frau, heraus zu gehen. Als sie draußen war, löste er die Kette ganz und nahm dann eines der Schwerter. Damit drängten sie die beiden Wächter weiter nach hinten, gingen durch die Tür und verriegelten sie von außen,
In der Wachstube erwartete sie die Magd. Sie sagte: „Ihr müsst euch beeilen, es werden nachher Soldaten kommen!“
„Wieso hast du uns geholfen?“, fragte Engelbert.
Sie antwortete: „Ich war früher beim Goldschmied in Diensten. Er bat mich darum, sagte, er sei es dir schuldig.“
„Hab Dank!“, erwiderte Engelbert, „weißt du, wo der Schlüssel für diese Fessel ist?“
„Das haben sie mir nicht verraten, aber wichtige Sachen haben sie dort in der Truhe.“
Die Kiste, auf die sie zeigte, war verschlossen, aber für Borgun war es ein Leichtes, sie mit dem Schwert aufzubrechen. Darin fanden sie tatsächlich einen großen Schlüsselbund. Engelbert probierte eine ganze Reihe von Schlüsseln aus, bevor er den Richtigen fand. Schließlich gelang es ihm aber, Borgun die Fußfessel abzunehmen. Die Wunde darunter würde Fürsorge brauchen, aber erst einmal mussten sie weg. Einige Münzen aus der Truhe steckten sie sich als Haftentschädigung ein.
„Schlag mich nieder!“, forderte die Magd Engelbert plötzlich auf.
„Ich schlage keine Frauen“, entgegnete der.
„Du musst!“, betonte sie, „es muss einen Grund geben, dass ich die Wachen erst später raus lasse, wenn ich wieder zu mir komme.“
„Klug gedacht“, sagte Borgun, „aber das machen wir anders!“
Er rieb seine Hand im Ruß und der Asche des Kamins und schmierte der Frau das ins Gesicht.
Er sagte: „Wälze dich dort im Staub, dann setze dich vor die Zellentür und stöhne immer mal wieder!“
Beide Männer dankten der Frau, dann öffneten sie vorsichtig die Ausgangstür und schlichen davon.
„Wir brauchen einen Unterschlupf. Kennst du jemanden in Goselar, dem wir vertrauen können?“, fragte Borgun.
„Der Goldschmied ist ein Freund, aber das wissen sie, dort werden sie zuerst suchen“, antwortete Engelbert.
„Vielleicht besser kein Freund, sondern jemand, der etwas davon hat, ein Freund zu werden? Kennst du den Wundarzt? Ich fürchte, den brauche ich bald!“
„Ja, das ist Arimbert, ein kluger Mann.“
Sie mussten durch die halbe Stadt, um das Haus des Heilers zu erreichen. Glücklicherweise war noch nicht viel Betrieb auf den Straßen und niemand beachtete sie.
Es war fast Mittag, als sie ankamen. Engelbert klopfte an die Tür des schmalen Hauses, in dem der Wundarzt wohnte.
Der Mann war nicht zu Hause. Seine Frau öffnete, sah sofort Borguns Wunde und bat die beiden herein.
„Arimbert müsste bald wieder hier sein, wenn ihr warten wollt, aber ich kann dein Bein auch versorgen“, sagte sie.
Borgun bat sie darum, denn inzwischen schmerzte die Wunde sehr. Die Frau säuberte die Wunde und verrieb eine Tinktur darauf, die wie Feuer brannte. Schließlich verband sie den Unterschenkel mit Leinenbinden.
Sie verlangte zwei Silbermünzen für die Behandlung, die ihr Borgun gerne gab. Er ließ dabei die Goldstücke sehen, die er bei sich trug.
„Wisst ihr vielleicht, wo wir ein paar Tage Unterkunft finden können?“, fragte er dann.
Sie überlegte nicht lange, sondern sagte, „Wir haben oben eine Kammer frei. Sie ist nicht groß, aber es wird schon gehen.“
Sie sahen sich das Zimmer an. Es war kleiner als die Kerkerzelle, aber im Moment das Beste, was sie bekommen konnten.
Als der Wundarzt heimkam, berichtete ihm seine Frau von den unerwarteten Gästen und tischte dann eine Suppe für alle auf. Später, allein in ihrer Kammer, überlegten Borgun und Engelbert, wie sich aus der Stadt heraus kommen sollten. Es war schwer, abzuschätzen, wie weit die Staatsmacht gehen würde, um sie wieder einzufangen. Sicher würden die Stadttore nun sorgfältig bewacht und es wäre kaum möglich für sie, einfach hindurch zu spazieren, es wäre auch denkbar, dass sie die ganze Stadt nach ihnen durchsuchen und dabei irgendwann auch an die Tür des Wundarztes klopfen würden.
Eine weitere unschöne Möglichkeit bestand darin, dass man ein Kopfgeld für sie auslobte. Die Hausherrin war freundlich und hilfsbereit, aber sie mochte auch Geld. Der Wundarzt war auf Gedeih und Verderb von seiner Zunft abhängig. Wenn er da über sie etwas ausplaudern sollte, wäre es vorbei mit ihrer Sicherheit.
Sie waren sich einig, die Gastfreundschaft nur so kurz wie möglich zu nutzen und gut dafür zu bezahlen. Um die Stadt zu verlassen brauchten sie andere Hilfe, einen Warentransport, in dem man sich verstecken konnte,
Am nächsten Morgen wurde ihnen ein Frühstück aufgetragen, das nach den Tagen im Kerker luxuriös anmutete. Unter dem Vorwand, sich noch erholen zu müssen, zogen sie sich dann wieder in die Kammer zurück. Den ganzen Tag in der Stube zu hocken, mochte verdächtig sein, aber ziellos auf Goselars Straßen herum zu laufen erschien ihnen als noch gefährlicher.
Am dritten Tag sprach Arimbert sie darauf an und die beiden Männer beschlossen, sich ihm anzuvertrauen. Sie betonten, dass sie nichts verbrochen hatten und unschuldig verfolgt werden. Sie stellten ihm Rezepte für Heilmittel in Aussicht, die er noch nicht kannte. Das brachte ein Leuchten in seine Augen.
1
1