18. Soldaten
Wieder öffnete sich die Kerkertür und dieselbe Frau brachte Narda Wasser und eine Schüssel Brei. Das Mädchen sprach sie an, doch statt einer Antwort bekam sie nur eine Geste zu sehen: Die Magd zeigte mit den Fingern auf ihre Ohren. Sie musste taub sein, schlussfolgerte Narda. Bei ihr konnte das Mädchen nichts ausrichten.
„Konnte das ein Zufall sein?“, fragte sich Narda, das hämische Lachen des Mannes hinter der Tür deutete an, dass es keiner war! Wenn ihre Wachen wussten, was ihr Lied bewirken konnte, dann würde es auch der Fürst erfahren.
Sie hatte sich dem wütenden Mob stellen wollen, hatte sich zugetraut, sie zu beruhigen, für Frieden zu sorgen. Aber nun war sie Menschen ausgeliefert, die viel gefährlicher waren, und mächtiger. Verzweifelt suchte Narda nach einem Ausweg.
Als der Riegel das nächste Mal knarrte, blieb Narda einfach still sitzen. Sie konnte jetzt nichts anderes tun, als denken.
Marie hatte Ardins Kutte liebevoll wieder hergerichtet. Angetan damit und mit dem Abzeichen des Inquisitors auf der Brust durchschritt er das Tor von Goselar. Die Wachen standen stramm und ließen ihn und seine Begleitung ohne Fragen passieren. Merten führte sie auf direktem Weg zum Südturm, unter dem der Kerker lag. Auch die Wachen hier parierten.
„Wir haben nur Befehle befolgt, Herr! Uns wurde gesagt, sie wäre eine Hexe“, betonte die Dickere, der Dünnere nickte nur.
„Hol sie uns einfach“, befahl Ardin.
„Das würde ich gern tun Herr, aber es ist nicht möglich. Vor einer Stunde ist das Kind abgeholt worden“, der Dicke zitterte fast.
„Wer hat sie abgeholt und wo bringt man sie hin?“, Ardins Ton hatte jede Freundlichkeit verloren.
„Es waren die Abgesandten des Fürsten. Sie zeigten sein Siegel und nahmen das Kind mit“, erwiderte der Dünnere, „vielleicht holt ihr sie noch ein, sie fragten mich, wo es Proviant und etwas zu trinken gibt. Ich empfahl ihnen die Schenke am Nordtor.“
„Habt Dank“, antwortete der Inquisitor, „wir müssen sofort aufbrechen.“
Merten warf ein: „Ich weiß, wo das ist, kommt!“
Sie folgten dem jungen Mann, ohne zu zögern. Jando hörte den Stein, der den Wachen vom Herzen fiel, geradezu fallen. Im Laufschritt erreichten sie die Schenke. Vor dem Tor stand ein Planwagen mit dem Emblem des Fürsten.
„Wartet einen Moment“, sagte Bardo, „Habt ihr gemerkt, was der dünne Wächter gemacht hat, als wir kamen?“
Jando nickte. „Ja, er zog etwas aus seinem Ohr und warf es weg.“
„Genau! Der hatte seine Ohren verstopft! Das ist sicher kein Zufall. Seid auf der Hut!“
Ardin verstand nicht, was das bedeuten sollte, aber im Moment schien ihm anderes wichtiger. Er schob die Plane des Wagens beiseite und sah das Mädchen, das er suchte. Narda lag da, ihre Hände und Füße waren an die Planken des Wagens gefesselt und ihr Mund war geknebelt. Sie zitterte und er erkannte in ihren Augen die blanke Furcht. Borgun drängte ihn zur Seite, um das Mädchen zu befreien, doch Bardo hielt ihn zurück.
„Warte, wir müssen die Soldaten außer Gefecht setzen. Wenn wir Narda einfach mitnehmen, suchen uns bald ganze Horden!“
Narda vergoss Freudentränen, als sie Borgun erkannte. Der nahm ihr den Knebel raus und lockerte ihre Fesseln, legte ihr das Band aber locker wieder um. Sie verstand sofort, was Bardos Plan war.
Ardin betrat als Erster die Schenke, gefolgt von Borgun und den anderen. Mit festem Schritt ging der Inquisitor auf die Soldaten zu, die an einem Tisch saßen und fröhlich tranken.
„Ihr beiden da, wie lautet eure Order?“ Ardin sprach sie mit harter und lauter Stimme an.
Beide erhoben sich, nahmen Haltung an. „Wir haben Befehl vom Fürsten. Wir müssen etwas zum Hof bringen“, sagte der Ältere.
„Euer Befehl ist hinfällig, ich requiriere euren Wagen und das Pferd.“
„Das könnt ihr nicht, wir führen einen Freibrief des Fürsten!“
„Als Inquisitor der großen Weisheit widerrufe ich euren Befehl. Ihr dient jetzt mir!“
„Das dürfen und tun wir nicht, Herr! Trink aus, Wigurd, wir müssen weiter!“
Beide leerten im Stehen ihre Becher, warfen Kupferstücke auf den Tisch und versuchten zu gehen. Borgun stellte sich ihnen in den Weg wie eine lebende Mauer, aber Bardo winkte ihn mit der Hand zur Seite. Der Riese verstand und gab den Weg frei.
Der Ältere sah unter die Plane, dann bestieg er den Kutschbock, er versuchte es jedenfalls. Während er zusammenbrach, zog der andere sein Schwert aus der Scheide, aber auch er war schon zu schwach, um noch etwas auszurichten.
„Gut gemacht Nerissa“, lobte Bardo die Kräuterkundige.
Merten sprang auf den Wagen und befreite Narda.
„Wo kommst du denn her?“, fragte sie mit einem Ausdruck von Verwirrung, dann umarmten sie sich.
„Wirf die Stricke nicht weg, die brauchen wir noch“, raunzte Borgun.
Nachdem das junge Paar abgestiegen war, warf der Hüne die beiden Soldaten auf die Ladefläche. Jando schmierte Straßendreck über die fürstlichen Embleme auf der Plane, dann brachen sie auf. Ardin nahm den Platz auf dem Kutschbock ein, die anderen gingen nebenher.
Die Autorität des Inquisitors ersparte ihnen Kontrollen am Stadttor. Erst im Schutz des Waldes rasteten sie und beratschlagten.
„Wie lange werden die beiden schlafen und was machen wir mit ihnen?“, fragte Jando.
„Es dauert einen Tag, vielleicht sogar zwei, bis sie wieder aufwachen und keine Ahnung haben, was geschehen ist. Wir können sie irgendwo aussetzen“, antwortete die Heilerin.
„Wir sollten sie einfach ...“, setzte Borgun an, aber bemerkte dann, dass Bardo schnell einen Finger auf seine Lippen legte.
„Wir müssen ihnen die Waffen, die Rüstungen, die Siegel und den Freibrief abnehmen. Ohne all das brauchen sie Wochen, um sich zum Fürstenhof durchzuschlagen“, spekulierte Jando.
„Ich habe eine andere Idee“, sagte Bardo, „wir bringen sie vor die Stadt, an den Weg, auf dem sie gekommen sind. Ihren Wagen demolieren wir. Wenn sie aufwachen, werden sie glauben, sie wären damit verunglückt.“
Jando warf ein: „Ihre Siegel und der Freibrief können uns vielleicht noch helfen.“
Bardo antwortete grinsend: „Schau dir die Sachen genau an und tu, was du kannst, sie nachzumachen. Wir fahren den Wagen um die Stadt!“
In der Dämmerung machten sie sich auf den Weg. Jando hatte Kopien der Siegel und des Freibriefes angefertigt. Sie würden wohl nur einer oberflächlichen Kontrolle standhalten.
Als sie die andere Seite von Goselar erreichten, erleuchtete nur noch der Mond ihren Weg. Borgun schmiss die beiden Soldaten aus dem Wagen, dann zertrümmerte er die Deichsel und ein Rad. Jando wollte ihnen die Waffen zurück in die Scheiden stecken, doch Borgun riss sie ihm aus der Hand. Er zog die Schwerter über einen Felsbrocken, wieder und wieder, nahm sich dann die Dolche vor. Erst als die Waffen stumpf waren, steckte er sie die Halterungen.
Bardo wandte sich an ihn: „Das Pferd nehmen wir mit. Es wäre bei so einem Unfall verletzt worden und wir können es gebrauchen. Richte alles so her, dass es aussieht, als hätte es sich losgerissen.“
Dann sprach er Jando an: „Stecke ihnen deine Fälschungen in die Taschen, wir behalten die echten Sachen!“
Obwohl es spät war, machten sie sich wieder auf den Weg. Sie waren sich einig, besser Abstand zu haben, wenn die Soldaten erwachen würden.
Während sie gingen, sah Ardin in Gedanken nur Marie, seine Marie. Aber etwas störte seinen Wachtraum: Er erinnerte sich an die Kerkerwachen und die Ohrenstopfen und fragte sich, was die Truppe vor ihm verheimlichte.
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