31. Der Einsiedler
Narda rief sich eine von Nerissas Lektionen ins Gedächtnis: Sie brauchte Fichtenharz und Blätter vom Spitzwegerich, um Bardos Wunde ordentlich zu versorgen. Und sie musste sich beeilen, sonst könnte der Meister sein Bein verlieren oder sogar sterben. An Fichten herrschte in diesem Wald kein Mangel und es lagen mehr als genug Zweige auf dem Boden. Doch das Mädchen hütete sich, sie zu nehmen, denn Erde vom Waldboden konnte das Harz verderben.
Die Suche dauerte schon viel zu lang. Immerhin hatte sie die heilenden Blätter gefunden und sich in die Tasche gestopft. Da, über ihrem Kopf, sah sie den goldenen Schimmer von Harz unter einem Ast, klar und sauber, aber viel höher, als ihre Arme reichten.
Sie nahm einen Zweig vom Boden, der eine Gabelung aufwies, riss Teile davon ab, bis nur ein Haken übrig blieb. Mit diesem improvisierten Werkzeug versuchte sie, den Ast herunterzuangeln.
Sie musste sich strecken, so weit sie konnte, um den Haken über den Ast zu bugsieren. Als es gelungen war, zog sie daran, doch der Zweig erwies sich als zu dünn, der Haken brach ab. Sie schalt sich selbst, dass sie kein Seil für so einen Fall mitgenommen hatte, aber es half nichts, sie musste zurück zum Lager, eines holen.
Da war jemand. Ein paar Augen im Gebüsch. Narda war auf der Hut, sie wusste, dass der andere Räuber irgendwo im Wald herumirren musste.
„Hab' keine Angst!“, die Stimme kam aus dem Busch. Ein Mann, der dort gekauert hatte, richtete sich auf. Er hatte eine Statur wie Borgun, groß, breit bärtig und muskulös, und seine Haut war schwarz wie die Nacht. Narda wusste, dass es Menschen mit anderen Hautfarben gab, aber sie war nie einem begegnet.
„Du brauchst das Harz, ja?“, fragte der Mann.
„Ja, ich muss eine Wunde versorgen!“, antwortete Narda.
„Lass mich dir helfen!“, sagte der Fremde und kam näher.
Narda schwankte zwischen Misstrauen und der Einsicht, dass sie Hilfe brauchte. Die Angst um Bardo gab den Ausschlag.
Der Fremde war viel größer als Narda, aber doch nicht groß genug, um die Ast abbrechen zu können. Er zog in Messer aus dem Gürtel und das Mädchen wich instinktiv ein Stück zurück. Er sah das, drehte die Klinge zu sich und bot ihr den Griff des Messers an. Das Mädchen verstand und ergriff ihn.
„Ich hebe dich hoch, du kannst auf meine Schultern steigen!“
Er faltete sie Hände zur Räuberleiter und ging in die Knie, damit sie aufsteigen konnte. Als Narda darin stand richtete er sich auf und hob sie zu seinen Schultern. So konnte sie den verharzten Ast erreichen. Ihre Kraft reichte nicht aus, um ihn abzubrechen. Aber sie hielt sich mit einer Hand an ihm fest und gebrauchte mit der anderen das Messer, hackte auf das Holz ein.
„Du brauchst nicht den ganzen Ast“, sagte der Mann, „brich einen kleineren Zweig ab und schabe mit dem das Harz herunter!“
Er hatte recht! Warum war sie nicht selbst darauf gekommen. Sie kratzte reichlich Fichtenharz ab, dann kletterte sie an dem schwarzen Riesen herunter.
„Habt Dank! Ich muss zurück zu meinem Vater, er braucht die Medizin“, sagte sie.
„Ich komme mit“, antwortete der Mann und folgte ihr.
Als sie das Räuberlager erreichten, war Bardo nicht mehr bei Besinnung. Narda besann sich auf das Gelernte. Sie musste die Abbindung des Beins lockern, damit es nicht abstarb. Sie wusste nicht, wie lange der Meister schon bewusstlos was und wann er es zum letzten Mal getan hatte. Der Verband, den sie ihm angelegt hatte, schien zu halten, aber Narda musste ihn erneuern und mit den gesammelten Mitteln verbessern.
Sie zog die Abbindung wieder fest und löste das Tuch von der Wunde, während der Schwarze ein paar Flaschen ansah, die herum lagen. Eine öffnete er und roch an ihrem Inhalt.
„Das ist stark genug, damit kannst du die Wunde säubern!“, sagte er.
Sauberes Wasser wäre dem Mädchen lieber gewesen, aber ein Feuer zu entzünden, um welches abzukochen, hätte wertvolle Zeit gekostet. Sie roch selbst an dem Schnaps und ließ ihn dann über Bardos Wunde fließen.
Bardo schrie auf, es musste brennen wie die Hölle.
Der Fremde reichte ihr ein Tuch und wischte das Blut und den Alkohol weg. Dann ging sie vor, wie sie es gelernt hatte, zerdrückte die gesammelten Blätter über der Wunde, verteilte den entstandenen Brei darauf. Das sollte den Schmerz lindern.
Ihr Helfer hatte das Feuer entfacht und schmolz das Fichtenharz auf einem flachen Stein. Narda ließ es auf den Brei tropfen, polsterte die Wunde mit Moos und verband sie neu.
Wieder lockerte sie die Aderpresse, sie wagte es aber nicht, sie ganz offenzulassen, aus Angst, Bardo könnte verbluten.
„Du bist ein Heilkundiger?“, stellte Narda mehr fest, als das sie fragte.
„Ich bin ein bisschen vom Allem“, antwortete der Mann, „man nennt mich Bernhard und ich lebe seit langer Zeit allein hier. Ich habe vieles gelernt.“
„Danke Bernhard!“, sagte das Mädchen aufrichtig und erzählte ihm vom Überfall der Räuber, warnte ihn vor dem, der noch durch den Wald irrt.
„Ihr solltet nicht hierbleiben“, sagte Bernhard, „wenn er wieder gehen kann, kommt ihr besser mit in meine Hütte.“
„Ich fürchte, das wird einige Zeit dauern“, antwortete das Mädchen mit einem traurigen Blick auf den Meister.
Bernhard antwortete: „Das wird schon gehen. Wir machen ihm aus Ästen eine Krücke. Zur Not kann ich ihn auch tragen!“
„Wie weit ist es bis dort?“
„Von der Stelle, wo du das Harz gefunden hast, noch mal genauso weit.“
„Das schafft er nicht“, sagte Narda traurig, „und ihn so weit zu tragen, ist auch schwierig!“
„Auf jeden Fall muss er zu Kräften kommen!“, stellte Bernhard fest, „Wenn er wieder aufwacht, muss er etwas essen und trinken. Wir übrigens auch!“
„Du hast recht“, antwortete das Mädchen, „Ich habe noch dieses Pulver im Rucksack. Mit Wasser gibt das einen nährenden Brei.“
„Ich kenne das, ja. Es hält einen am Leben, aber ist nichts gegen ein Stück Brot und ein paar Eier! Ich schaue mich hier mal um, vielleicht kann ich etwas Leckeres finden!“
Narda nickte, Bernhard erkundete das Lager und den Wald drum herum.
Als er zurückkehrte, hatte Narda den Nahrungsbrei schon angerührt. Sie flößte Bardo, der halbwegs bei Besinnung war, etwas davon ein und stärkte sich selbst. Auch Bernhard aß etwas davon. Er war aber nicht mit leeren Händen gekommen: Aus Ästen und Zweigen hatte er eine Art Schlitten geflochten, den man über den Waldboden ziehen konnte.
„Damit bringen wir ihn morgen zu meiner Hütte“, sagte er und fuhr fort, „aber vorher müssen wir den hier begraben!“
Er wies auf den toten Körper des Räubers und Narda nickte. Ohne Hilfe wäre es unmöglich gewesen, aber Bernhard war ein starker Mann. Der Spaten, den er im Räubernest fand, was im Vergleich zu seinem Körper winzig, aber besser als nichts. Sie konnten und wollten nicht hierbleiben, also wählte er eine Stelle gleich in der Nähe, wo der Boden weich schien. Trotz seiner Kraft konnte er nicht tief vordringen, überall war Wurzelwerk; ein flaches Grab musste genügen.
Bevor er die Leiche zur Grube zog durchsuchte Bernhard die Kleidung des Toten und nahm einige Münzen an sich. Nach dem Zuschütten der Grube schichtete Bernhard einige Äste und Steine darauf, dann war er mit einem Werk zufrieden. Narda fiel auf, dass er etwas Seltsames tat, bevor er zu ihr zurückkehrte: Er legte seine Hand auf sein Herz, murmelte etwas, was sie nicht verstehen konnte, und verbeugte sich.
„Was hast du gemacht?“, fragte das Mädchen.
Bernhard antwortete: „Auch wenn er ein schlechter Mensch war, ein Räuber, habe ich seiner Seele Respekt gezollt“.
„Er hat meine Mutter ermordet!“
Bernhard zuckte zusammen und fragte nur. „Was?“
Narda hatte es vor Augen, als wäre es gerade erst passiert und war froh, es jemandem erzählen zu können. Sie erklärte unter Tränen: „Ich war erst sechs, als es passierte. Meine Mutter wanderte mit mir übers Land, nachdem mein Vater gestorben war. Drei Räuber überfielen uns.“
„Ist er nicht dein Vater?“, Bernhard wies auf halb wachen Bardo.
Narda sah dessen warnenden Blick und antwortete: „Eine andere Familie nahm mich danach auf, deshalb habe ich wieder einen Vater.“
Bernhard nickte und das Mädchen fuhr fort: „Die Angst um mich verlieh meiner Mutter Riesenkräfte. Einen schlug sie mit ihrem Wanderstock lahm, sodass er liegen blieb. Aber sie wurde selbst auch schwer verletzt und starb dann daran. Die beiden anderen konnten fliehen.“
„Bist du sicher, dass der hier dabei war“, fragte Bernhard.
„Es ist lange her, aber ja, der andere, der hier noch irgendwo herumläuft, hat eine Tätowierung und die habe ich wiedererkannt. Von diesem hier habe ich die Stimme erkannt. Der hier starb, als er gerade versuchte, auch noch Bardo zu töten. Mich wollte er an den Fürsten verkaufen!“
„Ich verstehe“, antwortete Bernhard, „lasst uns jetzt abwechselnd schlafen, wir haben morgen einen anstrengenden Weg vor uns. Einer muss immer wach sein, falls der andere Strauchdieb wieder auftaucht, außerdem muss die Knebelbinde an Bardos Bein immer wieder kurz gelockert werden.“
*
Narda erwachte von einem Schmerzensschrei. Bardo hatte versucht, aufzustehen, und das misslang gründlich. Immerhin war er jetzt bei Bewusstsein, aß und trank mit Narda und Bernhard. Der Gedanke, auf dem Schlitten durch den Wald gezogen zu werden, gefiel dem Meister gar nicht, aber eine bessere Idee hatte er auch nicht.
Das Mädchen erneuerte seinen Verband und nahm ihm die Aderpresse ab, der Druckverband schien jetzt zu genügen. Damit es so blieb, war nicht daran zu denken, das Bein zu belasten. Es blieb beim Krankentransport per Waldschlitten.
Sie machten sich auf den Weg, Bernhard band ein Seil an die Konstruktion und das andere Ende um seinen Bauch. Narda bekam die Aufgabe, das Vehikel hinten zu stabilisieren. Auf für Bardo gab es etwas zu tun, er musste seinen Liegeplatz mit einigen erbeuteten Werkzeugen und ihren Rucksäcken teilen.
Der Einsiedler kannte diesen Wald gut und führte sie auf einem Weg, der größtenteils eben war. Nur an wenigen Stellen musste der Schlitten mit Nardas Hilfe über herausstehende Wurzeln oder Felsbrocken gewuchtet werden. Trotzdem kamen sie nur langsam voran. Als die Sonne ganz oben stand, legten sie eine Pause ein und überprüften Bardos Verband.
Schließlich erreichten sie das Ziel. Das Mädchen hatte sich eine notdürftige Hütte vorgestellt, aber hier zwischen den Bäumen stand ein richtiges Haus mit einem gemauerten Kamin und Gehegen, in denen sich Ziegen und Hühner tummelten.
Bernhard sah ihr die Überraschung an und grinste. Er hob Bardo vom Schlitten und trug ihn ins Haus, legte ihn auf eine Pritsche im Haus. Dann zeigte er Narda seine Vorratskammer. Das Mädchen entzündete das Feuer und kochte einen Stärkungstee. Brot und Ziegenkäse waren eine heiß ersehnte Abwechslung vom Nährbrei aus der Tanne.
Der Einsiedler hatte ein richtiges Bett, für Narda blieb noch ein Strohlager auf dem Fußboden, aber nach den Nächten im Wald war alles besser. Sie war kaum eingeschlafen, als Bernhard sie wieder wachrüttelte. Er hielt ihr im selben Moment den Mund zu, legte einen Finger auf seine eigenen Lippen.
Draußen bewegte sich etwas!
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