29. Fremde
Der größere Mann schrie: „Die Griffel hoch!“
Beide Angreifer hatten ihre Armbrüste gespannt und den Finger am Abzug, Sie trugen keine Uniform, es war nicht zu erkennen, wem sie dienten.
Bardo hob langsam und vorsichtig seine Hände. Narda war völlig reglos, erstarrt wie eine Statue.
„Du auch“, brüllte jetzt der Kleinere, aber Narda rührte sich nicht. Ihr Blick war starr auf den Mann gerichtet. Nicht auf die Armbrust, sondern auf seinen Hals, auf ein Tattoo in der Form einer Schlange.
„Sie ist gelähmt vor Angst und kann sich nicht rühren“, sagte Bardo, um die Situation zu entspannen.
„Halt die Klappe!“, antwortete der Größere, während der Kleine mit finsterem Blick auf Narda zu ging.
„Du tust, was ich sage, oder du stirbst!“, keifte er.
Endlich rührte sich das Mädchen. Ihr Blick blieb auf den Hals des Mannes fixiert. Allmählich hob sie ihre Hände. Der andere fesselte erst Bardos Hände, dann Nardas. Sie durchsuchten ihre Kleider und Rucksäcke, aber fanden nichts, was sie zufriedenstellte.
„Wer mag wohl was für euch bezahlen?“, fragte schließlich der Größere.
„Niemand“, antwortete der Meister, „wir sind ganz allein!“
Der Kleinere grinste und sprach: „Der Fürst zahlt gut, für hübsche Mädchen, habe ich gehört.“
„Der Alte ist wohl nur Ballast“, erwiderte der andere, „aber wer weiß. Ihr kommt erst mal mit! Vielleicht fällt euch ja noch jemand ein, der euch freikaufen mag und mehr bezahlt als der Fürstenhof.“
Sie trieben ihre Gefangenen tiefer in den Wald, zu einem Hügel zwischen drei Bäumen. Im Vergleich zu Narda und Bardo hatten die beiden Räuber ein fast luxuriöses Lager aufgeschlagen, mit einem richtigen Zelt und einer befestigten Feuerstelle. Sie hausten wohl schon einige Zeit hier.
Das Mädchen und der Meister mussten sich an einen der Bäume setzen und der Kleine schlang einen Strick durch ihre Handfesseln und um den Baumstamm.
„Benehmt euch! Eine Kehle ist schnell durchgeschnitten, wenn ihr Ärger macht!“
Die beiden Männer entfachten das Feuer und brieten ein Kaninchen, sie aßen und tranken. Der Trank hatte es wohl in sich, denn wie wurden immer lauter, prahlten mit ihren Heldentaten. Nach einigen Stunden des Gezeches stand der Kleinere auf und schwankte auf die Gefangenen zu.
„Ich nehme mir mal die Kleine!“, sagte er.
„Lass' das, nur als Jungfrau ist sie was wert!“, schalt der andere.
„Egal, ich brauch' das jetzt!“
„Narda, du musst jetzt singen!“, flüsterte der Meister.
Narda konnte sich immer noch kaum rühren, aber die Gefahr weckte ihre Instinkte. Ihre Stimme war kaum zu hören, und das war gut, so bekam es der andere Mann nichts davon mit. Aber ihr Gesang kroch dem nahenden Kerl in die Ohren. Er kam noch ein paar Schritte näher, dann kippte er nach vorn und blieb liegen.
Der Größere lallte, „war wohl ein bisschen viel für dich heute“, dann nahm er noch einen Schluck und schlief dann auch ein.
Narda flüsterte: „Ich habe sein Tattoo erkannt! Ich werde es nie vergessen. Er war einer der Mörder meiner Mutter, der andere wohl auch.“
„Ich verstehe!“, antwortete Bardo nachdenklich.
„Kannst du ihn dazu bringen, uns loszubinden?“
„Er ist zu betrunken. Vielleicht morgen früh, wenn er wieder aufwacht, aber es ist sehr schwer.“
„Du könntest ihn zwingen, uns erst loszubinden und sich dann im Bach zu ertränken!“
„Nein“, antwortete Narda, „der Lebenswille ist stärker als meine Macht, er würde es merken und sich widersetzen.“
„Wir müssen abwechselnd wach bleiben, damit du weitermachen kannst, wenn er sich wieder regt.“
Narda nickte. Sie versuchte einzuschlafen, was in der Körperhaltung nicht einfach war. Vorher konzentrierte sie sich darauf, zwei Stunden später wieder aufzuwachen. Bardo blieb so lange so gut, es ging wach, dann wechselten sie sich ab.
Die Sonne ging auf und die beiden Gefangenen hatten sich etwas erholt. Der größere Räuber schnarchte ruhig neben der Feuerstelle vor sich hin, der andere lag mit der Nase im Dreck dicht bei ihnen. Das Mädchen sprach ihn leise an, aber er rührte sich nicht. Sie versuchte es ein zweites Mal, jetzt etwas lauter, aber der Erfolg blieb aus.
Schließlich streckte sie sich so weit, dass sie den Mann mit einem Fuß erreichen konnte, und stieß seine Schulter an.
Er regte sich stöhnend, bewegte unsicher seine Arme, drehte sich mehr auf die Seite und griff sich an den Kopf. Das war Nardas Signal. Leise stimmte sie ihr Lied an, sie war sich nicht sicher, ob sie beide gleichzeitig kontrollieren könnte. Es fiel ihr nicht leicht. Etwas in ihr wollte den Räuber büßen lassen, leiden lassen, ja sterben lassen für den Mord an ihrer Mutter. Da war auch eine Angst, den Mann dazu zu bringen, die Stricke zu zerschneiden, denn dazu musste er sein Messer ziehen.
Aber um mit ihrem Gesang in seinen Seelenkern vorzudringen, musste sie ihre Gefühle beherrschen. Sie riss sich zusammen. In den Wachphasen hatte sie sehr sorgfältig durchdacht, welche Suggestionen sie geben konnte. Es musste einfach klappen.
Es fiel ihr schwerer als jemals zuvor, aber sie ließ keine Unsicherheit in ihrer Stimme zu. Der Räuber erhob sich auf die Knie und richtete sich dann ganz auf. Er zog sein Messer aus dem Gürtel und kam dicht heran.
Sein Blick wirkte fast wie am Abend zuvor. Er fühlte Vorfreude darauf, sich mit dem Mädchen zu amüsieren, glaubte, sie würde ihm zu Willen sein. In diesem Bewusstsein durchschnitt er die Stricke und reichte Narda die Hand, um ihr aufzuhelfen. Dann ließ er seine Klinge fallen, drehte sich zur Seite und ging tiefer in den Wald, weg vom Lager, im festen Glauben, dass Narda ihm folgen würde.
Das tat das Mädchen nicht. Sie durchschnitt Bardos Fesselung, dann schlichen sie zusammen zu dem noch schlafenden größeren Räuber. Er sollte nicht schreien und so womöglich den anderen aus seiner Trance wecken. Bardo nahm ein Holzscheit in die Hand, beugte sich über den Schlafenden und holte aus.
Er hatte sich verrechnet: Der Wegelagerer hatte sich nur schlafend gestellt, aber seinen Dolch schon fest im Griff. Bevor der Meister zuschlagen konnte, brachte ihn ein Stich ins Bein zu Fall. Während Bardo fiel, richtete sich der Bandit weit genug auf, um die Oberhand zu gewinnen. Bardo unterdrückte den Schmerz und rang mit dem Kerl, der jetzt über ihm kniete, um das Messer.
Narda konnte mit ihrer Macht nichts ausrichten, dafür waren die Männer zu sehr mit dem Kampf beschäftigt. Der Räuber schob seine Hand mit dem Messer an Bardos Körper immer weiter nach oben. Bardo hielt mit aller Kraft dagegen, aber seine Verletzung schwächte ihn schon.
Narda schnappte sich das Holzstück und donnerte es dem Messerstecher an den Kopf. Sie war nicht kräftig genug, um ihn bewusstlos zu schlagen, aber es genügte, um ihn taumeln zu lassen. Der Meister drehte die Hand mit dem Dolch von seinem Herzen weg, als der Räuber auf ihn fiel. Der Räuber stürzte in seine eigene Klinge.
Der Mann rührte sich nicht mehr, der Dolch hatte sein Herz getroffen. Narda half Bardo, ihn auf die Seite zu rollen und den Meister zu befreien.
Bardos Beinwunde blutete stark und das Mädchen musste viel von dem zeigen, was Nerissa sie gelehrt hatte. Mit den Fesselstricken und einem Ast als Knebel band sie das Bein ab. Sie fand ein paar sauber aussehende Tücher im Räuberlager und legte eines davon zusammengefaltet auf die Wunde, das, andere band sie um das Bein, verknotete es und nutzte einen Stock als Hebel, um fest anzuziehen.
Der Meister hatte das Bewusstsein verloren. Das Mädchen brauchte Kräuter, um eine Entzündung der Wunde zu verhindern. Und irgendwo in diesem Wald irrte noch der andere Räuber herum.
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