22. Glücksgefühle
Narda sah fasziniert zu, während Finn dem seltsamen Apparat Fragen stellte und sofort Antworten bekam. Die Maschine konnte rechnen, mehr noch, sie löste komplizierte Gleichungssysteme. Finn fielen immer neue Aufgaben ein und dem grauen Kasten war keine zu schwer.
Das Mädchen holte Bardo dazu und der bat Ardin, mitzukommen. In der Zwischenzeit war auf der Fläche eine Zeichnung erschienen, die der Meister als Plan dieses unterirdischen Baus erkannte. Finn hatte das System der Eingabefläche erkannt und schrieb seine Fragen immer schneller.
Ardin wusste nicht genau, was es mit dem Apparat auf sich hatte, den Finn eingeschaltet hatte, aber er hatte eine Vermutung und verriet sie Bardo: „Das scheint eine frühere Version des Auges zu sein. Die große Weisheit spricht im Kloster zu uns durch das Stirnband und auf dem Auge erscheinen Bilder dazu, manchmal auch Texte. Es fehlen Tastkörper, um Gebete abzusetzen. Und natürlich das Stirnband!“
„Das Buchstabenfeld ist wohl der Vorgänger davon“, erklärte Finn, „wenn ich ein Zeichen berühre, erscheint es auf der Scheibe.“
„Frage, was der Zweck dieses Baus ist!“, sagte Bardo.
Die Finger des Jungen huschten über die Buchstaben, aber die Antwort war enttäuschend: Die Anlage sei stillgelegt und hätte keine Funktion mehr.
Finn tastete: „Welchem Zweck diente sie, bevor sie stillgelegt wurde?“
Diesmal dauerte die Antwort etwas länger: „Die Anlage Tanne war ein Ausweichsitz für die Regierung. Sie wurde so eingerichtet, dass die Bewohner jahrelang darin leben konnten, ohne mit der Außenwelt in Kontakt zu kommen. Sie beherbergte im paneuropäischen Krieg 5000 Menschen.“
„Wo sind diese Menschen jetzt?“
„Sie sind gestorben. Der Krieg ist 200 Jahre her.“
Bardo gebot dem Jungen, mit den Fragen aufzuhören: „Schalte das aus, wir wissen nicht, woher diese Antworten kommen. Wir müssen darüber sprechen.“
*
Narda rannte so schnell, sie konnte, aber die Häscher waren ihr dicht auf den Fersen. Ihre Stärke lag darin, unvermittelt Haken zu schlagen, aber auf die Dauer mussten sie das Mädchen einholen. Auf Finn wirkten die beiden Soldaten zwar wie Riesen, aber er fühlte sich ihnen trotzdem überlegen. Für Narda würde er auch mit Kolossen kämpfen. Sie hatten ihn noch nicht bemerkt und diesen Vorteil nutzte er. Durch einen Pfiff machte er Narda auf sich aufmerksam und vermittelte ihr mit Handzeichen, was er vorhatte. Sie verstand sofort und warf sich in ein Gebüsch, während Finn aus der Deckung auftauchte. Die Soldaten konnten die Kinder nicht unterscheiden und rannten nun in seine Richtung. Bevor sie ihn richtig sehen konnten, tauchte er ab und Narda machte sich wieder bemerkbar.
Durch dieses Hase-und-Igel-Spiel konnten die Kinder ihre Verfolger ermüden, aber der Junge hatte noch etwas anderes im Sinn. Mit jedem Wechsel kam er dem Weg näher, auf den er die Häscher locken wollte.
Als die Verfolger wieder in seine Richtung liefen, schrien sie plötzlich laut auf, dann fluchten sie. Finn lachte: Er kannte diese Grube, das Überbleibsel eines früheren Versuchs, in die Anlage „Tanne“ einzudringen.
Narda kam auf ihn zu und er lief ihr entgegen. Erleichtert fielen sie sich in die Arme. Drückten sich erleichtert aneinander. Finn war überglücklich.
*
Bardo befahl: „Niemand geht allein! Jando, du Narda mit in den linken Korridor, Ardin und ich suchen rechts, Borgun und Merten nehmen die Mitte. Nerissa und Engelbert, ihr durchforstet den Eingangsbereich. Öffnet jede Tür, notiert, wenn welche verschlossen sind. Wir treffen uns hier wieder.“
Finn war zum Frühstück nicht erschienen, sein Bett war unbenutzt. Das Tor konnte er allein nicht bewegt haben, er musste noch in der Anlage sein.
Nerissa war mit Engelbert als Erstes zurück. Von dem langen Eingangskorridor gingen nur wenige Türen ab und dahinter waren Vorratsräume, aber keine Spur von Finn.
Bardo war der nächste und ebenso erfolglos, aber er hatte sich die Nummern von drei verschlossenen Räumen notiert. Borgun schlug bei der Rückkehr seine Faust gegen die Seitenwand. Auch Jando und Narda hatten den Jungen nicht gefunden.
„Wir müssen diese Türen aufbekommen“, sagte er, „Habt ihr Ideen?“
Borgun antwortete: „Wir brauchen eine Eisenstange. Mit meiner Kraft und der Hebelwirkung kriege ich die Türen auf.“
Narda widersprach: „Da fehlt etwas zum Dagegenhalten. Aber diese Türschlösser funktionieren doch elektrisch! Wenn wir den Kasten mit den Knöpfen abbekommen, geht es vielleicht einfacher.“
„Das versuchen wir“, antwortete Bardo, „Borgun und Merten suchen nach Werkzeug, falls es nicht klappt“.
Narda, Bardo und der Gaukler eilten zur ersten versperrten Tür. Das Zahlenfeld direkt daneben war in die Wand eingelassen und ein schmaler Spalt war sichtbar. Bardo setzte sein Messer an und es gelang ihm, die Öffnung zu vergrößern. Er wechselte immer wieder die Seite und konnte so nach und nach die Platte heraus hebeln. Drei dünne Schnüre verbanden die Platte mit einem Loch in der Wand.
Das Mädchen erkannte, dass dies Drähte waren, und wusste aus ihren Büchern, was die Farben der Umhüllung bedeuteten:
„Der rote Draht ist der Pluspol, der Schwarze minus, der Grüne muss zum Öffnen dienen. Ich weiß aber nicht, mit welchem von beiden er verbunden werden muss.“
Jando zuckte mit den Schultern und sagte: „Probieren wir es aus. Wenn es nicht klappt, ist Borgun am Zug!“
Bardo nickte und schnitt die Drähte durch, erst den Roten, dann den Grünen, den Schwarzen zuletzt. Mit dem Messer löste er die Umhüllung der Leitungen.
„Also dann“, sagte er und tippte kurz mit dem Ende des blauen Drahtes an den Schwarzen. Er hörte ein Klicken und hielt die Enden etwas länger aneinander. Währenddessen drückte Bardo gegen die Tür und sie öffnete sich.
In diesem Raum waren allerlei Werkzeuge und technische Geräte gelagert, aber von Finn fanden sie keine Spur. Immerhin wussten sie jetzt aber, wie es geht. Jando schnappte sich eine Tasche, die nach Techniker-Ausrüstung aussah, und sie gingen zur nächsten versperren Tür.
Das Tastenfeld heraus zu hebeln und die Drähte zu verbinden, war nun einfach. Dieses Zimmer enthielt ganze Regale voll von grauen Kästen, wie der, den Finn ausprobiert hatte.
Der Trick funktionierte auch bei der dritten verriegelten Tür. In diesem größeren Raum standen Dutzende Liegen. Neben jeder stand ein Apparat, an dem eine Art Maske hing. Und auf einer dieser Liegen lag Finn, mit der Maske auf dem Gesicht.
23. Erwachen
Jando rannte los, um Nerissa zu holen, während Bardo die Kappe näher betrachtete, die Finns Kopf bedeckte. Daran blitzen immer wieder Lichter auf. Ein fingerdicker Schlauch verband sie mit einem Kasten neben der Liege.
Der Junge rührte sich nicht und der Meister löste die Kopfbedeckung zunächst nur ein wenig. Die Lichtblitze wurden schneller, aber Finn blieb reglos. Bardo schob seine Finger unter die Kappe und trennte sie ganz vom Kopf des Jungen.
Innen sah es dem Stirnband, das sie schon kannten, sehr ähnlich. Da waren Metallplatten, die die Schläfen berühren sollten, aber auch andere, unbekannte Elemente. Er legte das Gebilde auf den Boden, Finn war wichtiger. Bardo schüttelte ihn leicht, sprach ihn an und versetzte ihm eine Ohrfeige, als das nichts half. Finn atmete, aber das war das Einzige, was er tat.
Nerissa trat hinzu und untersuchte den Jungen und hielt ihm ein Gefäß unter die Nase, kniff ihn, aber hatte ebenso wenig Erfolg.
„Wir müssen Ardin fragen, was das hier ist und was es mit dem Jungen gemacht hat“, sagte Bardo und Jando sprintete los.
„Ich mache mir Sorgen“, sagte Nerissa, „wie ist Finn hier hereingekommen und wer hat ihm dieses Ding angelegt?“
„Ja, mir ist nicht wohl dabei, Ardin zu fragen!“
„Meinst du, er war das?“
Bardo antwortete nach einigem Zögern: „Jedenfalls weiß er mehr über die Dinge hier, als wir, und viel mehr, als er uns sagt!“
Nerissa nicke und sprach: „Vielleicht müssen wir die Tanne aufgeben und uns ein neues Versteck suchen!“
„Das ist es, was ich befürchte! Aber erst mal müssen wir den Jungen wach kriegen. Vielleicht kann er uns ja erklären, was passiert ist.“
Ardin traf mit Jando ein, sah sich im Raum um und staunte offensichtlich.
„Was ist das hier?“, fragte ihn der Meister.
„Das ist ein Glücksraum! Unsere sehen heute anders aus, aber etwas anderes kann es nicht sein.“
„Wie funktioniert das?“
Ardin erklärte: „Die Kappe gibt dir den Eindruck, eins mit der großen Weisheit zu sein, ein ungeheures Glücksgefühl. Es gibt nichts Schöneres!“
„Außer die Stunden mit Marie, oder?“, fragte Nerissa.
„Ja, so ähnlich. Man verschmilzt mit dem ganzen Universum.“
„Warum wacht Finn nicht auf? Er muss hier schon lange gelegen haben!“
Ardin erklärte: „Wir wachsen damit auf, lernen schon als Kinder, damit umzugehen. Die Gedanken und Gefühle, die es indiziert, verändern sich nach und nach. Finn trägt kein Stirnband, deshalb hat er wahrscheinlich etwas erlebt, was so nicht für ihn bestimmt war.“
„Er steckt in einer Art Halluzination, ja?“, fragte Nerissa.
„So kann man es nennen. Er müsste aufwachen, wenn er Durst und Hunger spürt, aber sicher weiß ich das nicht.“
„Darauf sollten wir nicht warten. Kannst du das irgendwie steuern?“
„Wenn ich mein Stirnband noch hätte, könnte ich es vielleicht, aber das ist zerstört!“
„Wartet hier!“, Bardo verließ die anderen und eilte zu seiner Stube.
Nerissa versuchte noch mal ihr Glück mit der Riechflasche und schüttelte den Jungen, schrie ihn an.
Ardin hantierte an einer der anderen Liegen, nahm deren Kappe in die Hand und versuchte, sie sich aufzusetzen.
„Halt!“, fauchte Nerissa, „ein Bewusstloser reicht!“
Als Bardo wieder eintrat, hatte er Ardins Stirnband in der Hand.
Ardin blieb der Mund offen stehen. „Ist das meins?“, fragte er.
Bardo bestätigte: „Ja, wir haben es repariert. Wie kann es helfen, Finn zu wecken?“
„Legt es dem Jungen an, dann dringt das, was gesagt wird, in seine Traumwelt ein.“
Bardo zögerte, aber Nerissa ergriff die Initiative: „Schlimmer kann es nicht werden“, sagte sie, nahm das Band und legte es dem Jungen um den Kopf.
Am Stirnband leuchtete etwas auf und Ardin sprach: „Komm jetzt zurück ins Hier und Jetzt, wach auf!“
Finns Augäpfel bewegten sich sichtbar hinter den Lidern, er zuckte kurz, aber er wachte nicht auf.
Narda stand in der Tür und beobachtete das Geschehen. Bardo ging zu ihr und flüsterte etwas in ihr Ohr. Das Mädchen nickte und trat nah an Finn heran.
Sie sang ihr Lied und schloss dieselben Worte an, die schon Ardin gesagt hatte: „Komm jetzt zurück ins Hier und Jetzt, wach auf!“
Finn rekelte sich, blinzelte ein paarmal und öffnete schließlich richtig die Augen, sah Narda und versuchte, sie an sich zu ziehen.
24. Verschlossene Türen
Narda holte zu einer schallenden Backpfeife aus, aber Bardo hielt ihre Hand zurück. Finn hatte versucht, sie zu küssen, und sie sah nur zu gut, dass das etwas anderes war als der Dank fürs Wecken.
„Er weiß nicht, was er tut, Narda, wir kümmern uns darum“, beruhigte der Meister sie.
Das Mädchen nickte, aber sie hatte Tränen in den Augen. Sie entriss Bardo ihren Arm und verließ das Zimmer mit harten Schritten. Finn versuchte aufzustehen, aber Nerissa hielt ihn zurück.
„Was ist denn mit ihr, ich habe sie doch gerettet!“, sagte der Junge.
„Du hast tief geschlafen und geträumt!“, erklärte Bardo.
„Nein, ich weiß, was Träume sind. Das ist wirklich passiert: Wir waren draußen und plötzlich sind zwei Soldaten aufgetaucht. Ich habe sie in die Falle gelockt und so Narda das Leben gerettet. Dann lagen wir beieinander und es war wunderschön!“
Nerissa erklärte: „Nein Finn, du hast zwei ganze Tage tief geschlafen. Keiner von uns war draußen. Das Ding, was du dir aufgesetzt hast, hat den Traum so plastisch gemacht wie die Wirklichkeit.“
„Das glaube ich nicht, niemals.“
„Trink und iss erst mal was! Du kannst uns nachher zeigen, wo ihr diese Soldaten getroffen habt und was das für eine Falle war“, sagte Bardo.
Finn musste sich eingestehen, dass er großen Durst und Hunger hatte und dass er schwach auf den Beinen war. Beim Versuch, zum Speiseraum zu gehen, kam er nicht weit. Nerissa musste ihn stützen und half ihm, sich auf einen der Stühle zu setzen. Bardo holte Wasser und Nahrungsbrei,
„Engelbert ist unterwegs und besorgt neue Vorräte. Das hier kommt aus Maschinen. Immerhin ist es nahrhaft“, sagte Nerissa.
Den Jungen kümmerte das nicht. Er trank gierig und verschlang die Speise. Sein Körper holte sich, was er brauchte.
„Versuch noch mal, ein paar Schritte zu gehen“, sagte der Meister, „wir sollten raus gehen, so lange deine Erinnerungen noch frisch sind.“
Finn stand auf und setzte zögernd einen Fuß vor den anderen. Er wirkte noch etwas schwach, stimmte aber zu: „Lasst uns gehen!“
Bardo und Finn verließen das Zimmer und gingen den langen Weg zum Eingangstor.
„Wie habt ihr das Tor eigentlich öffnen können?“, fragte Bardo so beiläufig wie möglich.
Finn zögerte, ihm schien zu dämmern, dass seine Erinnerungen Lücken hatten. Sie waren am Tor angelangt und Bardo zeigte auf das Zahlenfeld daneben.
„Welche Ziffern habt ihr eingetippt?“
„Ich weiß es nicht, das hat Narda gemacht!“
Das war gelogen, da war sich Bardo sicher.
„Tippe 9-3-7-6-2 und dann die grüne Taste“, sagte er.
Der Junge tat es, aber das Tor setzte sich nicht in Bewegung, stattdessen hörten sie nur einen Ton wie das Quaken eines Froschs. Der Meister schon ihn zur Seite und versuchte es selbst. Die Ziffern, die er antippte, erschienen auf einem Feld darüber und waren korrekt, aber statt, dass sich etwas bewegte, folgte nur wieder ein „quak“.
„Was ist los?“, fragte Finn, „wieso geht es nicht auf?“
„Ich weiß es nicht“, sagte Bardo nach einigen Sekunden des Überlegens, „wir müssen uns beratschlagen“.
Der Meister nahm jetzt keine Rücksicht mehr auf Finns Schwäche und beeilte sich, zurückzukommen. Der Junge folgte ihm, so gut es ging. Bardo berichtete, dass der Ausgang verschlossen ist. Dann gab er Befehle:
„Borgun und Jando, schaut euch das Tor und alles drum herum genau an. Es muss so wie außen eine Notvorrichtung geben, mit der wir den Ausgang aufkurbeln können. Jando, nimm dir besonders das Tastenfeld vor, ob das genauso aufgebaut ist, wie die hier an den Türen. Nerissa, du suchst Narda und beruhigst sie, erklärst ihr, was geschehen ist. Erkläre es besser auch Merten! Du Finn, ganz egal, was du glaubst, erlebt zu haben: Du bleibst Narda vom Leib!“
Der nickte zwar, aber Bardo war sich nicht sicher, ob der Junge sich auch daran halten würde. Er wandte sich an Ardin:
„Wir müssen uns unterhalten!“
*
Während Jando schon zum Tor lief, holte Borgun noch Schlüssel, wie er es nannte, aus einem Nebenraum. Als er sich zu Jando gesellte, hatte eine lange Metallstange über der Schulter und einen schweren Hammer in der Hand. Zunächst klopfte er die Wände um das Tor ab, suchte nach Stellen, die anders klangen. Das Material schien überall dasselbe zu sein, ein festes und hartes Metall wie Eisen. Den Übergang zwischen den Wänden und dem Fußboden bildeten winkelförmige Leisten. Borgun zog sein Messer aus dem Gürtel, kniete sich hin und mühte sich, seine Klinge zwischen die Leiste und die Wand zu pressen.
Schweiß stand auf seiner Stirn, als er endlich einen schmalen Spalt geöffnet hatte. Nun setzte er das Messer als Hebel ein, um die Leiste weiter von der Wand zu trennen. Immer ein Stückchen weiter schob er die Klinge nach unten und hebelte allmählich die Leiste ab. Als endlich ein Stück des Winkels abbrach, fluchte er laut: Die Metallwand reichte in den Fußboden hinein. Es gab nichts, wo er ansetzen konnte.
Jando hatte inzwischen den Deckel des Zahlenfeldes gelöst, so wie es schon bei den Schlössern der anderen Türen funktioniert hatte. Er war sehr vorsichtig zu Werke gegangen, um auf keinen Fall etwas zu zerstören. Was er freigelegt hatte, war genauso simpel aufgebaut wie die Zimmerschlösser: Es gab nur drei Drähte, die von dem Gerät in die Wand führten, rot, schwarz und blau. Bei den Zimmern hatte es zum Erfolg geführt, den blauen mit dem schwarzen Draht zu verbinden. Er schabte die Hülle der Drähte ab und führte sie zusammen.
Auch er fluchte laut, denn er hörte nur das gleiche „quak“, von dem Bardo erzählt hatte. Das Tor rührte sich nicht. Er versuchte es auch mit Blau und Rot, aber dabei gab es noch nicht mal einen Ton.
Borgun wechselte einen Blick mit dem Gaukler, dann nahm der den Hammer in die Hand und holte aus. Er schlug auf die Seitenwand ein, erst gemäßigt, dann mit ganzer Kraft. Das Donnern seiner Schläge war bis in den letzten Winkel der Anlage zu hören, aber die Wand gab nicht nach. Außer kleinen Kratzern richtete Borguns Kraft nichts aus.
Mit wenig Hoffnung auf Erfolg versuchte er es auch an der anderen Seitenwand, hier war es anders: Eine Verkleidung, die nicht von der Wand zu unterscheiden war, fiel herunter und legte eine Nische frei. Hier war ein Kurbelrad, wie das, was sie draußen benutzt hatten. Der Hüne versuchte, es zu drehen, setzte auch die Eisenstange als Hebel an, aber das Rad bewegte sich nicht.
Bardo schimpfte: „Irgendwas muss die Blockade lösen können. Außen musste ja auch jemand an einer anderen Stelle drücken, Aber ich finde es ums Verrecken nicht!“
„Lass uns noch was probieren“, schlug Jando vor, „Ich verbinde die Drähte und du versuchst zu drehen, während sie sich berühren!“
Borgun nickte und setzte die Stange wieder an. Jando verband Blau und Schwarz und hörte das vertraute „quak“. Das Kurbelrad blieb unbeweglich. Auch die Verbindung von Blau und Rot änderte nichts.
„Rot und Schwarz?“, fragte Borgun.
„Nach allem was ich über Elektrizität weiß, ist das keine gute Idee! Aber schlimmer kann es ja wohl nicht werden!“ Jando führte die beiden Leitungen zusammen, während Borgun wieder seine Muskeln anstrengte.
Tatsächlich passierte etwas: Das Licht flackerte in dem Moment, als die beiden blanken Metalle sich berührten, aber das Rad blieb verriegelt.
Borgun ließ die Werkzeuge fallen und ging mit Jando den Weg zurück.
*
Nerissa fand Narda in ihren Schlafraum. Das Mädchen lag auf dem Bett und weinte in ihr Kissen. Die Heilerin legte eine Hand auf Nardas Schulter und flüsterte beruhigende Worte.
„Es bringt alles durcheinander! Finn begehrt mich, aber ich gehöre zu Finn, das weiß ich seit vielen Jahren. Nun glaubt Finn, ich hätte mich ihm sogar hingegeben. Wie soll das weitergehen?“
„Finn wird begreifen, dass er das nur geträumt hat. Dann wird er sich in Grund und Boden schämen.“
„Pass bitte auf, dass er niemals mit mir allein ist! Ich fühle, was er will, fühle, dass er glaubt, es kriegen zu können.“
„Versprochen! Versprich mir bitte auch etwas!“
„Was denn?“, fragte das Mädchen.
„Gib ihm die Chance, zur Vernunft zu kommen. Tu ihm nicht vorher an, was du tun könntest!“
Narda nickte zögernd.
*
Der Meister führte den Inquisitor in einen Nebenraum.
„Weißt du, was vor sich geht?“, fragte er, „was ist mit Finn passiert und wieso ist das Tor versperrt?“
„Ich habe eine Idee, was mit Finn los ist: Wir kommunizieren ja von Kindheit an mit der großen Weisheit, sind das gewohnt. In dieser Kommunikation fühlen wir größtes Glück, wir sind dann eins mit der ganzen Welt, sehen uns als unendliche und unsterbliche Wesen. Irgendwie muss Finn das eingeschaltet haben, aber ihm fehlte die Erfahrung, richtig damit umzugehen. Über das Tor weiß ich nichts.“
„Hätte der Junge nicht von dem Apparat geweckt werden müssen? Es sah so aus, als wäre er da verdurstet ohne es zu merken, wenn wir ihn nicht gefunden hätten!“
„Ja, normalerweise dauert so etwas nur ein paar Minuten und danach geht es in normalen Schlaf über, aus dem man dann am Morgen erwacht. Vielleicht ist es gestört. Der Apparat hier ist sicher uralt, es kann sein, dass es damals noch jemand ausschalten musste, wenn die Zeit um war.“
Bardo gab keine Ruhe: „Der Traum, den Finn hatte, schien sehr konkret zu sein und Narda spielte darin eine Rolle. Wie kann die Maschine genau das Erlebnis erzeugen, ohne irgendetwas von uns zu wissen?“
Ardin zögerte und antwortete sehr bedacht: „Vielleicht weiß sie etwas über uns! Wir nennen sie nicht umsonst 'Große Weisheit'!“
„Wenn deine 'Große Weisheit' unseren Aufenthaltsort kennt, sind wir in größter Gefahr! Wie kommen wir hier raus?“
Der Inquisitor schüttelte den Kopf. „Ich weiß es wirklich nicht. Hätte ich mein Stirnband, könnte ich fragen.“
„Fragen? Oder noch mehr verraten?“
Ardin blickte zum Boden. Er sehnte sich nach seiner Zelle im Kloster, nach dem regelmäßigen Tagesablauf, nach dem abendlichen Glück der Vereinigung. Er war sich aber klar darüber, dass all das Vergangenheit war, dass er bei einer Rückkehr nur seine Hinrichtung zu erwarten hatte.
„Wahrscheinlich ist es unmöglich, das eine ohne das andere zu bekommen“, antwortete er schließlich.
„Würde dein Stirnband hier überhaupt funktionieren?“, frage Bardo.
„Ich weiß es nicht. Vor allem weiß ich nicht, ob ich dann mit der großen Weisheit an sich kommunizieren würde oder mit etwas, was nur hier ist.“
Der Meister nickte. Inzwischen war Borgun zurückgekehrt und berichtete: „Wir haben ein Kurbelrad gefunden, aber es ist blockiert und lässt sich nicht bewegen. Aber Engelbert müsste bald zurück sein, vielleicht kann er uns von Außen befreien.“
„Das geht nur zu zweit“, wandte Bardo ein, „wenn man nicht deine Kraft hat, braucht man sogar drei!“
„Er kann sich sicherlich Helfer aus dem nächsten Dorf holen!“
Bardo hatte wenig Hoffnung. „Das braucht mehr Zeit, als wir haben. Ich fürchte, es sind schon Häscher auf dem Weg. Wenn das Tor sich öffnet, sind es wahrscheinlich diejenigen, die davor stehen.“
Narda war dazugekommen und sagte, „was ist mit dem Kasten, den Finn entdeckt hat, der ihm Fragen beantwortet hat?“,
„Gute Idee!“, antwortete der Meister, „hol den Jungen, Borgun!“
Ein paar Minuten später trafen sie in dem Raum mit dem seltsamen Kasten zusammen. Narda blickte Finn zornig an und wich dann in die hintere Ecke des Zimmers aus.
Der Junge schaltete den Kasten ein und auf seiner Oberfläche erschien eine Schrift: „Hallo Finn, hattest du ein schönes Erlebnis?“
Finn zuckte zusammen. Zögernd wandte er sich an Narda: „Es tut mir leid, ich weiß jetzt wieder, was passiert ist. Es war ein Traum und ich hätte den nicht träumen sollen!“
Narda blickte ihm ins Gesicht. „Was meinst du damit?“, fragte sie.
„Ich hatte hier gesessen und der Maschine Fragen gestellt. Sie konnte alles beantworten und schließlich fragte ich, wie ich glücklich werden könnte. Die Maschine erklärte mir, wie ich in den Raum mit den Liegen komme und was ich dort tun sollte. Danach erlebte ich all das, was ich schon beschrieben hatte. Es war für mich alles echt, ich habe nicht einen Moment daran gezweifelt!“
Das Mädchen nickte, der Ausdruck des Zorns in ihren Zügen wich einem des Verständnisses, aber sie blieb auf Abstand.
Bardo frage Finn: „Der Kasten hat dich bei deinem Namen genannt. Hast du den selbst eingetippt?“
„Ja, er hat mich gefragt, wer ich bin.“
„Hast du auch etwas über uns andere erzählt?“
Der Junge begriff nun die Schwere seines Fehlers und senkte langsam den Kopf.
25. Ausbruch
Borgun schnauzte Finn an: „Reiß dich zusammen, wir haben keine Zeit!“
Der Junge versuchte sich zu fassen. „Was soll ich tun?“, fragte er.
„Frag das Ding, ob es das Tor öffnen kann!“, antwortete Bardo.
Finn tat wie geheißen, aber die Antwort, die erschien, enttäuschte: „Das Tor ist verriegelt, ich kann es nicht öffnen!“
„Wie wurde es verriegelt und wie kann es entriegelt werden?“, tippte der Junge.
„Die Autorität hat es verschlossen, nur sie kann es öffnen.“
„Gibt es einen anderen Weg hinaus, den du öffnen kannst?“
„Nein, ich kann den anderen Ausgang auch nicht öffnen.“
„Wo ist der andere Ausgang?“
„Diese Information ist nicht zugänglich.“
Jando schob Finn zur Seite und tippte selbst etwas. Er war viel langsamer dabei als der inzwischen geübte Junge, aber er hielt das für besser.
„Wenn ich die Autorität wäre und es befehlen würde, könntest du dann das Tor öffnen oder den anderen Weg beschreiben?“
„Die Autorität braucht nach diesen Informationen nicht zu fragen, denn sie hat sie und kann das Tor selbst jederzeit öffnen.“
Jando tippte weiter: „Dies ist ein Test. Tue so, als wäre ich die Autorität und bräuchte sofort die Wegbeschreibung!“
„Legitimiere dich als Autorität!“, erschien auf der Platte. Vor dem Apparat öffnete sich eine Klappe. Darunter lag die Zeichnung einer stilisierten Hand. Jando legte seine Hand auf das Bild. Lichter blitzten darunter auf, waren am Ende rot.
„Nicht berechtigt!“, erschien auf dem Kasten.
Jando wandte sich an Narda: „Versuch du es!“
Das Mädchen wunderte sich, aber legte seine Hand auf die Zeichnung. Wieder erschienen Lichter, aber zum Schluss waren sie grün.
„Willkommen Autorität, ich erwarte deine Befehle.“
Narda fragte Jando: „Wie ist das möglich?“
„Das erkläre ich dir später. Jetzt haben wir es eilig!“
Er tippte Befehle ein: „Beschreibe den Weg zum anderen Ausgang und das Prozedere, um ihn zu öffnen!“
Es erschien ein Plan der Anlage mit einem rot eingezeichneten Weg. Das Ziel war ein Raum am anderen Ende. Von dort führte ein schmaler Gang ins Freie.
Bardo befahl: „Sofort dort hin!“
Die Gruppe lief zu dem Raum. Borgun schob einen Schrank zur Seite. Dahinter war eine runde Luke mit einem Kurbelrad und daneben einem Ziffernfeld. Bardo tippte die Ziffern ein, die der Kasten verraten hatte, dann drehte Borgun das Rad. Die Luke öffnete sich nach wenigen Umdrehungen. Dahinter lag eine enge Röhre.
Das Problem war offensichtlich: Borgun konnte sich niemals hindurch zwängen. Sie hörten, dass sich nun das Haupttor bewegte und kurz darauf die Tritte von vielen Stiefeln.
„Los rein, ich halte euch den Rücken frei!“, sagte Borgun nur.
„Das geht nicht! Wir können dich nicht zurücklassen.“
„Doch, das müssen wir“, antwortete ihr Bardo, „sonst sind wir alle verloren. Borgun kann sich seiner Haut wehren!“
Er drückte dem Riesen die Hand, dann wies er Jando an, als Erstes einzusteigen: „Du musst die Luke am anderen Ende öffnen, schnell!“
Einer nach dem anderen kroch in die Röhre. Borgun verschloss sie und schob den Schrank wieder davor, dann wechselte er in den Raum daneben. Fröhlich pfeifend kam er aus dem wieder heraus und ging den Soldaten entgegen.
*
Die Röhre führte schräg nach oben. Sie kamen nur langsam voran und merkten mit jedem Meter, dass es schwerer wurde. Als Jando endlich an die Luke stieß, war Finn ohnmächtig und wurde von Borgun geschoben, der als Letzter kroch. Jando drehte das Rad und schob die Luke auf. Mit letzter Kraft hievte er sich hindurch und ließ sich auf den Waldboden fallen.
Die anderen folgten. Merten hob den besinnungslosen Finn aus der Öffnung, und sein Gesichtsausdruck konnte sich nicht zwischen Pflichtgefühl und Ekel entscheiden. Bardo schloss die Luke hinter sich. Von außen sah sie aus wie ein ganz gewöhnlicher Baumstumpf.
„Wir rasten nur kurz“, sagte der Meister, „sie suchen uns zwar erst mal da unten, aber sicher auch irgendwann hier im Wald. Merkt euch den Ort gut! Vielleicht müssen wir da irgendwann noch mal rein.“
26. Engelbert
Engelbert hatte einen Bauernhof östlich von Goselar besucht. Wehlich, der Besitzer war ein alter Freund. Mit seiner Hilfe hatte Engelbert die erbeutete Kutsche so umgebaut, dass sie als Fuhrwerk durchging, alle Symbole der Obrigkeit waren beseitigt. Wehlich war bereit, den Wagen mit Brot, Fett, geräuchertem Fleisch, Obst und Gemüse zu füllen, Nahrung, die von der Truppe sehnlich erwartet wurde, etwas anderes als der künstliche Nährbrei aus der Maschine,
Es gab aber noch etwas anderes, was er teilen konnte und wollte: Neuigkeiten die waren allerdings alles andere als gut: Fürstliche Wachen durchkämmten das Land, suchten nach der Gauklertruppe und übten rücksichtslose Gewalt aus. Auch Wehlich hatten sie sich schon vorgenommen und bestohlen. Engelbert versteckte den Wagen in der Scheune, dann zog er einen Kittel an und hing sich eine Kiepe voller Äpfel auf den Rücken. So marschierte er in Richtung Goselar, um noch mehr zu erfahren.
Die Wachen am Stadttor konfiszierten einige der schönsten Äpfel, aber widmeten ihm keine weitere Aufmerksamkeit. Überall in der Stadt waren Soldaten verteilt, die jeden musterten, der sich hier bewegte. Ziel von Engelberts Wanderung war die Werkstatt des Goldschmieds Hartmann. Der war ein Vertrauter der Pythagoräer, konnte sich bei der Arbeit einiger Hilfsmittel erfreuen, die keiner seiner Kollegen kannte. Er fertigte sowohl Paraphernalien für die Klöster an, als auch Zierrat für den Fürstenhof, beste Voraussetzungen, um zu erfahren, was vor sich geht.
Engelbert vergewisserte sich, dass ihm niemand folgte, dann klopfte er an die Tür der Werkstatt und Hartmann öffnete sie ihm. Der Besucher trat ein, doch der Goldschmied ergriff seine ausgestreckte Hand nicht, sondern wich zurück, flüsterte „es tut mir leid!“. Engelbert spürte die Spitze eines Dolchs, der an seine Kehle gedrückt wurde. Er war ein erfahrener Kämpfer und es gelang ihm mit einer geschickten Bewegung, die Klinge von sich weg zu drehen und unter dem Arm des Angreifers durch zu tauchen. Bevor der noch begriff, was geschah, kassierte der einen Tritt in den Unterleib und fiel zu Boden. Ein zweiter Soldat warf sich auf Engelbert und rang mit ihm. Der Erste rappelt sich hoch und half seinem Kollegen, Engelbert unten zu halten. Gemeinsam schafften sie es, seine Hände zu fesseln.
„Herzlich willkommen du Verräter!“, knurrte der Gardist und revanchierte sich für den Tritt, „du wirst uns sagen, wo wir deine Freunde finden“.
Sie trieben ihn zum Kerker wie Vieh. Dort prügelten sie ihn blutig, aber er hielt stand, verriet nichts. Als sie müde wurden, warfen sie ihn in ein stockfinsteres Verlies. Sie stellten ihm einen Krug Wasser hin und eine Schüssel Brei. Er hörte, wie der Gardist hinein spuckte.
Von da an holten sie ihn mehrmals täglich heraus, um ihn zu foltern, zu prügeln und ihren Zorn an ihm auszulassen.
Als sich nach zwei Tagen regelmäßiger Quälerei die Zellentür wieder öffnete, rechnete er mit nichts anderem als weiterer Folter. Doch diesmal war es anders: Sie zerrten jemanden in den Raum und ketteten ihn an die Wand.
„Gesellschaft für dich“, sagten sie, als sie die Zelle verließen.
„Wer ist da?“, fragte eine tiefe, raue Stimme.
„Borgun, bist du das?“
„Ja, sie haben mich geschnappt!“
„Was ist mit den anderen?“, fragte Engelbert.
„Über alle Berge! Ich blieb in der Tanne zurück, um unsere 'Freunde' zu begrüßen. Leider war die Überzahl ein bisschen zu groß.“
„Mich haben sie beim Goldschmied überrascht. Wie kommen wir hier raus?“
„Ohne Hilfe von Außen wohl gar nicht. Mich haben sie mit einer soliden Fußfessel an die Kette gelegt. Sie wussten, wie stark ich bin. Nur wenn ich Werkzeug hätte, könnte ich es schaffen. Den Zauber von Nerissa und Narda beherrschen wir beide nicht. Aber du weißt auch, wie du Schmerzen unterdrücken kannst, oder?“
„Ja“, antwortete Engelbert, „das hat mir Nerissa beigebracht und ich hatte die letzten Tage reichlich Gelegenheit zum Üben. Meinst du, Bardo kann uns raushauen?“
„Ihm fällt immer etwas ein, aber es ist wichtiger, Narda in Sicherheit zu bringen“, antwortete Borgun langsam, „erst dann sind wir dran.“
„Vielleicht überleben wir ja so lange“, flüsterte Engelbert leise.
27. Wohin?
Langsam erholte sich Finn, aber er war auch nach einer Stunde Rast noch immer schwach. Bardo wies den Weg und trieb zur Eile.
„Los jetzt, wir müssen in diese Richtung, achtet darauf, an welcher Seite der Bäume das Moos ist. Und seid leise!“
Nerissa stützte Finn, die anderen konnten alleine gehen. Als es dunkel wurde, waren sie an einen Bach gelangt. Nachdem sie getrunken hatten, legten sie sich zum Schlafen auf den Moosboden. Nur Jando hielt Wache.
Bei Sonnenaufgang weckte er die anderen. Ihren Durst konnten sie stillen, aber sie fanden in der Umgebung nichts Essbares. Bis auf ein Messer, das Jando an seinem Gürtel trug, hatten sie auch keine Werkzeuge. Der Meister sandte Nerissa und Merten aus, sich zurück zu schleichen und nachzusehen, ob die Soldaten weg wären. Jando, Finn und Ardin sollten zunächst am Lagerplatz verweilen und sich erholen. Bardo und Narda machten sich auf, dem Lauf des Bachs zu folgen und Nahrung zu suchen.
„Selbst wenn die Soldaten weg sind“, fragte Merten nach einigen Hundert Metern, „können wir zurück in die 'Tanne'?“
„Nur wenn sie das Tor offengelassen haben. Bardo sagte zwar, dass wir uns den Hintereingang merken sollen, aber ich glaube nicht, dass wir den benutzen können.“
„Wieso? Es war anstrengend, aber ich traue es mir zu, da noch mal durch zu kriechen“, sagte Merten.
„Borgun ist klug. Er hat bestimmt den Schrank wieder vor die Luke geschoben, um uns den Rücken freizuhalten. Wir würden das nicht aufkriegen!“
Merten nickte, dann sagte er, „und wenn das große Tor offen steht, sollten wir wohl besser nicht hinein gehen, wie eine Maus in die Falle!“
„Ja“, antwortete Nerissa, „aber es gibt ein Depot in der Nähe des Tors. Wenn wir das erreichen, stehen wir viel besser da als jetzt. Es sind Zelte darin, Trinkflaschen, Nahrung und auch ein wenig Gold, um uns Unterstützung kaufen zu können.“
Nach einer weiteren Stunde Wegs sahen sie den Eingang der 'Tanne'. Von einer Bewachung war nichts mehr zu erkennen, aber sie wagten sich nicht näher heran. Stattdessen führte Nerissa Merten durch dichtes Gehölz zu einem Hügel. Gemeinsam räumten sie einen Haufen Zweige beiseite. Ein Ast musste als Hebel herhalten, um schließlich eine Holzplatte abzuheben,
Sie konnten nur einen kleinen Teil der Sachen tragen, aber Nerissa hatte recht genaue Vorstellungen, was am wichtigsten war. Sie füllten zwei Rucksäcke mit Nahrungskonzentrat, Arzneien, Zeltplanen, Feuerhölzern, einem Kompass und Wasserflaschen. Merten entdeckte in der Depotbox auch die Bücher, aus denen Narda ihm einst vorgelesen hatte, aber die konnten sie nicht mitnehmen. Einige andere Papiere steckte Nerissa noch ein.
Bevor sie sich auf den Rückweg machten, schoben sie die Holzplatte wieder an ihren Platz und tarnten sie mit Gestrüpp, die Heilerin schlich sich zum Rand des Niedergangs vor dem Tor und warf ein paar Zweige direkt an den geschlossenen Eingang.
Mit den schweren Rucksäcken kamen sie deutlich langsamer voran als auf dem Hinweg. Die Dunkelheit setzte schon ein, aber sie sahen einen Feuerschein zwischen den Bäumen und konnten sich daran orientieren. Jando hatte es mit dem, was er am Leib trug, geschafft, nicht nur Feuer zu machen, sondern auch ein paar Fische zu angeln. Er begrüßte die Rückkehrer fröhlich, doch Finn und Ardin verbargen nur mühsam Sorge und Furcht.
„Wo bleiben Narda und Bardo?“, fragte der Junge endlich.
*
Der Waldbach war schmal und flach, an manchen Stellen von den Ufergräsern ganz verborgen. Bardo und Narda folgten seinem Verlauf, wobei sie immer wieder Felsen und Gestrüpp umgehen mussten.
„Warum geschieht das alles?“, fragte das Mädchen.
„Es geht um dich, Narda“, antwortete der Meister, „wir wissen nicht, was sie mit dir vorhaben, aber sicher ist es nichts gutes!“
„Sollte ich mich nicht ihnen stellen, damit es Frieden gibt?“
„Nein“, antwortete Bardo, „Wir wissen, dass sie manchmal jemanden aus unserem Kreis mit aller Gewalt haben wollen. Aber auch wenn sie einen erwischen, heißt das nicht, dass wir anderen sicher wären. Es gibt immer einen Nächsten, den sie sich schnappen wollen!“
„Du hast mal gesagt, es ginge nur um mich“, sagte das Mädchen.
„Ja, das ist so. Du kannst das mit dem Lied ganz besonders gut. Vielleicht ist das der Grund, aus dem sie unbedingt dich haben wollen, es ist aber auch eine Chance: Ich glaube, dass du ihnen gefährlich werden kannst, dass wir sie mit dir besiegen können!“
Sie gingen schweigend weiter bachabwärts und stießen auf eine Stelle, an der sich ihr Rinnsal mit einem breiteren Fluss vereinigte. Sie fanden keine Nahrung und auch keine Spur von Menschen und beschlossen, kehrtzumachen. Für den Rückweg wählten sie das andere Ufer. Der Weg auf dieser Seite war noch schwieriger, doch Bardo hoffte, so noch etwas zu entdecken.
„Ich habe ein komisches Gefühl“, flüsterte Narda.
Bardo nickte kaum merklich, dann sprang er über den Bach und zog Narda mit sich. Es war zu spät, zwei Männer sprangen zwischen den Bäumen hervor und richteten ihre Armbrüste auf sie.
28. Mut
Nach einer unruhigen Nacht beratschlagten sich die Übriggebliebenen. Nerissa übernahm als Erfahrenste die Rolle der Anführerin.
„Wir können hier nicht länger warten. Sie haben Borgun gefangen genommen oder getötet. Bardo und Narda hätten längst wieder da sein müssen, da müssen wir auch das Schlimmste fürchten. Ich hoffe, dass Engelbert noch frei ist und nach uns sucht, aber auch er kann in die Falle gegangen sein“, sagte sie.
„Wenn sie Bardo erwischt haben, sollten wir bachaufwärts gehen, die andere Richtung scheint gefährlicher zu sein“, antwortete Jando.
„Ja“, bemerkte Merten, „aber das führt zwangsläufig bergauf. Da wird es kälter und schwieriger, an etwas Essbares zu kommen.“
„Du hast doch noch was anderes im Sinn, oder?“, fragte Nerissa.
Der junge nickte und sprach sehr überlegt: „Ich will Narda suchen. Ich weiß, dass ich sie finden kann.“
Nerissa antwortete; „Das hast du ja schon mal geschafft und uns alle verblüfft. Vielleicht kannst du der Joker in unserem Kartenspiel sein, weil du ja nicht offiziell zu uns gehörst. Du bist ein Müllerbursche auf Wanderschaft.“
Merten lächelte und nickte. So wurde es beschlossen: Die Gruppe wanderte flussaufwärts in der Hoffnung auf Sicherheit, nur Merten sollte in die Richtung von Bardo und Narda gehen und versuchen, etwas herauszufinden. Sie vereinbarten einen Treffpunkt, einen Tagesmarsch von hier, dann nahm Merten einen der Rucksäcke, füllte Nahrungskonzentrat für ein paar Tage hinein, Feuerhölzer und ein Messer, band eine Feldflasche an den Gurt und machte sich auf den Weg.
Die anderen bereiteten ebenso ihr Gepäck vor und begannen die Wanderschaft. Das Gelände um den Flusslauf war auch in Richtung Quelle unwegsam, ja gefährlich. Das Spektrum der Hindernisse reichte von Felsbrocken bis zu tiefem Schlamm. Immer wieder mussten sie Umwege gehen und oft das Ufer wechseln. Die gute Seite daran war, dass hier wohl seit langer Zeit keine Menschen mehr gewesen waren, denn es war unmöglich, keine Spuren zu hinterlassen. Das war genauso die schlechte Seite: Wenn ihnen jemand folgen wollte, würde der leicht einen Anhalt finden.
Nach einigen Stunden Fußmarsch rasteten sie auf einer Wiese und verzehrten die letzten gerösteten Fische. Als sie weitergingen, schlug Jando vor, ein Lied anzustimmen. Die Begeisterung hielt sich in Grenzen, aber die anderen folgten der Idee. Jando sang ein altes Wanderlied vor und nach und nach stimmten alle ein. Ardin entpuppte sich als recht guter Sänger.
Nerissa wollte bis zum Sonnenuntergang weiter ziehen, aber Ardin stellte sich beim Übersteigen eines Dornbuschs ungeschickt an und verletzte sich. Die Heilerin konnte die Blutung schnell stillen und die Wunde verbinden. Sie beschloss, an Ort und Stelle das Lager aufzuschlagen. Aus einigen Ästen und der mitgenommenen Zeltplane baute Jando eine notdürftige Überdachung. Nerissa entfachte ein Feuer und rührte aus dem Nahrungspulver einen Brei an. Ein paar Kräuter vom Wegesrand fügte sie hinzu, um etwas natürlichen Geschmack hinein zu bringen.
Als sie gegessen hatten, sprach Finn Jando an und ging mit ihm ein Stück tiefer in den Wald.
„Was hast du auf dem Herzen?“, fragte Jando.
„Wird Narda mir verzeihen? Ich habe Angst, dass ihr etwas passiert ist, und es macht mir zu schaffen, wie zornig sie auf mich war!“
„Narda ist sehr klug und versteht, was passiert ist“, antwortete der Gaukler, „an ihren Gefühlen konnte sie nichts ändern, genau, wie du nichts an Deinen ändern kannst. Aber mit der Zeit siegt bei schlauen Menschen der Verstand. Du hast ja am Ende auch kapiert, dass deine Erinnerung falsch war!“
Der Junge nickte langsam, dann fragte er weiter: „Ich habe wohl gar keine Chance bei ihr?“
„Ihr seid beide noch sehr jung und müsst euch nicht binden. Narda liebt jetzt Merten und das musst du akzeptieren. Die beiden kennen sich so lange, wenn ich wetten müsste, würde ich sagen, sie bleiben zusammen. Du wirst ein anderes Mädchen finden, das du lieben kannst.“
„Mir ist noch nie ein anderes Mädchen begegnet, das so klug ist wie Narda!“
„Ja, Finn, Narda ist besonders! Aber in der Welt hier sind viele Schätze, die du heben kannst, wenn du alt genug dafür bist. Behandele die Mädchen, nicht so, als wären sie dumm, denn das sind sie nicht und sie können immer klüger werden!“
„Was meinst du damit?“, fragte Finn.
„Merten ist nur über Narda zu uns gekommen. Er ist nicht als Wunderkind aufgefallen, hatte keine Pythagoräer als Eltern, war zu Hause der ganz normale Müller-Lehrling. Dadurch, dass sich Narda und er zusammen getan haben, ist er klüger geworden, so klug, dass er uns ungesehen folgen und Narda finden konnte, als sie gefangen war. Klugheit wird nicht kleiner, wenn du sie teilst!“
„Meinst du, jeder könnte so werden wie wir?“, Finn klang entrüstet.
„Vielleicht nicht jeder, aber fast jeder kann lernen und manche können viel lernen. Vielleicht brauchen sie drei Jahre für das, was du in einem Halben lernst, aber es kann leicht sein, dass sie es dann besser können!“
„Ich kann das kaum glauben, mir sind außer euch bisher keine klugen Köpfe begegnet.“
„Welchen Eindruck hattest du von den Nonnen im Kloster? Waren die auch dumm?“
„Die meisten haben kaum jemals etwas gesagt, aber du hast recht, sie konnten alle lesen.“
„Genau“, antwortete Jando, „in den Klöstern gibt es viele gebildete Menschen, jedenfalls hier oben. Die Leute in den unterirdischen Städten sind wirklich beschränkt.“
„Auch Ardin?“, fragte Finn.
„Ich halte Ardin nicht für dumm. Wenn er es wäre, hätten sie ihn nicht auf die Oberfläche geschickt“, antwortete Jando.
Sie kehrten zum Lager zurück und legten sich schlafen.
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