15. Gehversuche
Bardo hörte Hufgetrappel. Er hielt sich versteckt, bis er Engelbert erkannte.
„Sie haben Fersengeld gegeben“, berichtete der.
„Gut, aber nun glauben sie noch mehr an Hexerei! Wir müssen uns in Acht nehmen.“
„Vielleicht hätten wir alle töten sollen!“, antwortete der Reiter. Dann half er Bardo, zu ihm aufs Pferd zu steigen.
Sie ritten so schnell, wie es zu zweit möglich war, und erreichten Mardenach wenige Stunden später. Auf den vereinbarten Eulenschrei hin kam Nerissa zu ihnen hinter das Bauernhaus.
„Gott sei dank, ihr seid da!“, rief sie.
Engelbert stieg ab und half Bardo herunter. Nerissa und er umarmten sich.
Der Meister erklärte: „Wie mussten uns aufteilen, die anderen sollten morgen oder übermorgen eintreffen. Was ist mit dem Pfaffen?“
„Ich muss ihm endlich die Schienen abnehmen, sonst macht er es selbst. Gut ist, dass sich die Tochter des Bauers um ihn kümmert. Ohne sein Stirnband fehlt ihm was, und er scheint langsam zu merken, was es ist!“
Bardo nickte anerkennend. „Das hört sich gut an, aber wir haben nicht viel Zeit. Wenn er wieder laufen kann, wird er einen Weg finden, seine Leute zu erreichen.“
„Er sollte Nardas Lied hören! Sie kann das besser als jeder von uns.“
„Ja“, bestätigte der Meister, „aber das ist sehr gewagt. Wenn es nicht gelingt, bleibt uns nur, ihn zu töten!“
Nerissa nickte. „Das sollte das Mädchen besser nicht erfahren!“
Sie und Engelbert verabschiedeten sich und gingen in Richtung der Scheune. Bardo suchte den Bauern und wechselte einige Worte mit ihm.
*
„Wie geht es euch, Herr?“, Nerissa trat an Ardins Bett.
Der Inquisitor antwortete mürrisch: „Schlecht geht es mir! Ich habe eine Aufgabe zu erfüllen und das kann ich nicht im Bett tun. Es sollte längst jemand hier sein und mich abholen!“
„Dann wird es euch freuen, dass ich euch jetzt befreie. Die gebrochenen Knochen werden geheilt sein. Aber gebt acht, ihr müsst euch erst wieder ans Gehen gewöhnen!“
Mit geübter Hand zerschnitt sie die Riemen, die seine Beine an die Stöcke fesselten.
„Vorsicht Herr, versucht langsam aufzustehen. Ich werde euch stützen“, sie zögerte, „wartet einen Moment, ich rufe Marie dazu, sie kann helfen.“
Nerissa rief nach der Bauerntochter, die sofort hereinkam. Ardin zog das Nachthemd herunter, um seine Blöße zu bedecken. Die beiden Frauen stellten sich an seine Seiten und halfen ihm aufzustehen.
Jede Bewegung schmerzte Ardin nach der langen Zwangsruhe, doch er spürte, dass die Brüche verheilt waren. Der Schmerz würde sich geben. Marie holte zwei Krücken herein, die ihr Vater gezimmert hatte.
„Damit wird es besser gehen“, sagte sie.
Ardin war trotz der Schmerzen glücklich, sich wieder bewegen zu können. Nerissa ließ ihn los, blieb aber bereit, jederzeit zuzugreifen. Der Inquisitor schaffte erste Schritte allein mit den Krücken.
„Ich weiß gar nicht, wie ich euch danken kann“, sagte er, „jedenfalls jetzt.“
„Es ist mein Beruf, Kranke und Verletzte zu heilen. Der Eure ist es, Ketzer und Hexen zu fangen und uns zu schützen. Ihr seid mir nichts schuldig, doch solltet ihr die Bauernfamilie für ihre Gastfreundschaft entschädigen, sobald ihr es könnt.“
Ardin entgegnete: „Wenn ich meine Leute erreicht habe, werde ich sie reich belohnen und dich auch.“
Nerissa gab sich bescheiden, wie es sich gehörte, doch wusste sie, dass sie bald einen Gefallen einfordern würde. Sie bat Marie, zu bleiben und ein wenig aufzuräumen, dann zog sie sich zurück.
Beim Gehen hörte sie Gekicher. Marie und Ardin verstanden sich gut. Nerissa hatte Marie angespornt, ihre Gefühle zu zeigen, hatte ihr erklärt, warum Ardin so unbeholfen im Umgang mit Menschen war und dass sie ihm helfen könne, zu lernen und zu lieben.
16. Ein falscher Schritt
Nardas Entschluss hatte festgestanden, als sie sich wieder hingelegt hatte: Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass Menschen ihretwegen verletzt wurden oder gar starben. Als Borgun angefangen hatte zu schnarchen, hatte sie sich vorsichtig erhoben, ihren Rucksack ergriffen und sich davon geschlichen. Sie hatte im Mondlicht den Weg gefunden, auf dem sie gekommen waren, aber schließlich konnte sie nicht mehr wachbleiben. Erschöpft schlief sie an einem Baumstamm ein.
Nerissa hatte ihr beigebracht, wie sie im Wald überleben konnte. Wertvolle Lektionen, die jetzt zum Tragen kamen. Narda trank Tau von Blättern und suchte nach essbaren Beeren, dann setzte sie ihren Weg fort. Trotz ihres guten Gedächtnisses war sie sich bald nicht mehr sicher, ob sie noch auf dem richtigen Weg war, dem Weg zurück. Eichen, Buchen, Erlen und alle anderen Bäume, die sie kannte, standen hier, wieder und wieder. Sie musste sich eingestehen, dass sie sich verirrt hatte. Doch sie ging weiter. Die Flechten an den Bäumen gaben ihr eine ungefähre Richtung.
Schließlich fand sie einen ausgebauten Weg und wählte die Richtung nach links. Nun konnte sie schneller ausschreiten. Die Schatten der Bäume waren kurz geworden, als sie unbekannte Stimmen hörte. Drei Männer kamen ihr entgegen, doch es waren keine Dörfler mit Mistgabeln, es waren Soldaten, bewaffnet mit Armbrüsten.
Das Mädchen versteckte sich in den Büschen am Wegrand. Es mit wildgewordenen Bauern aufzunehmen, das traute sie sich zu, aber dies war eine ganz andere Aufgabe. Sie hoffte, dass man sie nicht gesehen hatte, und wagte kaum zu atmen. Die Männer gingen fröhlich pfeifend an ihrem Versteck vorbei.
Narda atmete auf, doch sie hatte sich zu früh gefreut: Einer der Soldaten hatte einen Bogen geschlagen und stand nun hinter ihr, die beiden anderen vor ihr, mit der Waffe im Anschlag.
„Was haben wir denn da?“, sagte der Anführer grinsend, „du ahnst nicht, wie sehr der Fürst sich nach dir sehnt!“
Narda öffnete ihren Mund, in diesem Moment wurde alles schwarz.
*
Das Mädchen erwachte auf einer Strohmatte in einem kleinen dunklen Keller. Durch einen schmalen Spalt an der Decke drang gerade genug Licht hinein, um nicht an die Wände zu stoßen. Ihr Kopf schmerzte und eine Beule am Hinterkopf zeugte davon, dass der Soldat sie niedergeschlagen hatte. Sie entdeckte einen Wasserkrug und ein Stück Brot, die neben der Matte lagen.
Narda war misstrauisch, doch ihr Körper forderte sein Recht ein. Sie musste etwas trinken und auch etwas essen. So gut es bei dem wenigen Licht möglich war, erkundete sie dann den Raum. Die einzige Tür war von außen verriegelt, innen gab es weder ein Schloss noch ein Schlüsselloch. Die Türangeln waren außen, das Luftloch oben war unerreichbar hoch. Ein Eimer für die Notdurft stand noch in der Ecke. Hier war nichts, was ihr helfen könnte, sich zu befreien.
Es gab nur eine Möglichkeit, ihr Lied! Sie bestärkte sich mehrmals, dass sie jeden in ihren Bann ziehen konnte, sie würde auch einen Soldaten dazu bringen können, sie frei zu lassen, ja wenn es nötig wäre, ihr den Weg frei zu schießen.
Den letzten Gedanken schob die schnell beiseite. Sie wollte nicht, dass jemand stirbt, auch keiner von diesen Kerlen. Sie musste einen nach dem anderen verzaubern.
Stunden später öffnete sich die Tür. Eine alte Frau schaute durch die Tür und stellte frisches Wasser und Brot hinein. Narda begann ihr Lied, sang es mit Inbrunst, doch die Frau sprach nicht darauf an, ging wieder hinaus und verriegelte die Tür, sie schien es gar nicht zu hören. Aber Narda hörte etwas: das verächtliche Lachen eines Mannes hinter der Tür.
17. Das Bündnis
Ardin Gefühle gerieten völlig durcheinander. Sein Leben war von Logik beherrscht gewesen, vom Befolgen der Befehle. Er kannte Freundschaft und Kameradschaft. Dass er auch Ehrgeiz besaß, war in seiner Welt schon ungewöhnlich. Für Lust und Befriedigung gab es das Stirnband und die große Weisheit. Die Nähe zu Marie hatte Empfindungen geweckt, die er nie gekannt hatte. Er war aber klug genug, um zu begreifen, dass es sehr dem ähnelte, was ihm im Kloster das Stirnband bescherte, das Gefühl des Einsseins, des Verschmelzens.
Für Marie war er ein attraktiver Mann. Vielleicht spielte seine Macht als Inquisitor eine Rolle, doch ihr gegenüber war er fast unbeholfen. Er lag ihr zu Füßen. Sie mochte ihn wirklich und wollte ihn zum Mann.
Nerissa besprach sich mit Bardo.
„Glaubst du wirklich, dass wir ihm jemals vertrauen können?“, fragte er.
„Er ist Wachs in Maries Händen. Für sie wird er alles tun“, antwortete sie, „er hat gemerkt, dass echter Sex besser ist als die Illusionen, die ihm die große Weisheit einflüstert.“
Jando und Finn erreichten Mardenach am nächsten Abend. Borgun kam erst am nächsten Morgen dazu. Der große Mann zitterte und konnte kaum sprechen.
Die Frage, „ist Narda hier?“, war das Einzige, was er heraus bekam.
Erst als Nerissa ihn beruhigt hatte, konnte er berichten, dass Narda ausgerissen war und sich stellen wollte.
Ein junger Mann rannte auf sie zu. Nerissa erkannte ihn als Ardins Retter.
„Ihr müsst mir helfen! Narda ist gefangen worden“, sagte er keuchend.
„Wer bist du?“, fragte Jando.
„Mein Name ist Merten. Narda ist mir versprochen. Ich weiß, dass ihr sie schützen wollt, und ich will das auch, um jeden Preis! Ich bin dem Inquisitor gefolgt und dann euch.“
Jando blieb der Mund offen stehen. Er erinnerte sich, dass Engelbert von einem Verfolger gesprochen hatte. Dieser Bursche hatte erstaunliche Fähigkeiten.
„Wo ist Narda?“, fragte er.
„Wachen des Fürsten haben sie erwischt und nach Goselar gebracht. Sie haben Narda in den Kerker gesperrt. Sie wird ständig bewacht und allein kann ich gegen so viele nichts ausrichten.“
Bardo sprach: „Wir brauchen Ardin. Soldaten müssen einem Inquisitor gehorchen. Nerissa, erzähle ihm so viel wie nötig und bitte ihn um Hilfe!“
„Es muss schnell gehen!“, sagte Merten, „ich weiß, dass sie schon Boten zum Fürsten geschickt haben, und der wird sich nicht lange bitten lassen.“
Bardo nickte. Die Heilerin zog sich zurück, die anderen überlegten einen Schlachtplan.
„Engelbert, du reitest voraus. Ardin glaubt, dass du tot bist, und das sollte besser so bleiben. Behalte ihn und uns aber im Auge. Falls er ein falsches Spiel versucht, weißt du, was zu tun ist“, befahl der Meister.
Während sie auf Nerissa warteten, befragte Jando Borgun nach dem Stirnband. Es tat dem Hünen gut, über etwas ganz Sachliches zu sprechen. Er erklärte, dass Narda das Band mit ihm repariert hatte, dass sie es aber noch nicht ausprobiert hätten.
„Vielleicht hilft es uns“, sagte Bardo, „leg es an Jando, nur ein paar Sekunden, wir nehmen es dir dann wieder ab!“
Der Gaukler nahm es vorsichtig in die Hand, drehte es so, dass der Edelstein vorn lag und die Metallscheiben innen auf seine Schläfen gerichtet waren. Zögernd legte er das Band um seinen Kopf. Bardo beobachtete das Geschehen mit scharfen Augen. Er sah, wie sich Jandos Züge veränderten, wie sie von mit Fröhlichkeit übertünchter Sorge wechselten zu einem neutralen, fast entrückten Gesichtsausdruck. Er atmete langsamer als sonst. Bardo hatte genug gesehen und nahm ihm das Stirnband ab.
„Was ist geschehen?“, fragte der Meister.
Jando reagierte nicht gleich, Borgun setzte an, den Gaukler mit einer Ohrfeige ins hier und jetzt zurückzuholen, aber Bardo hielt ihn zurück. Langsam normalisierten sich Jandos Züge und Bardo wiederholte seine Frage.
„Da war Musik! Ich hörte Klänge, die mich glücklich machten. Auch eure Stimmen habe ich gehört, aber das war alles in mir, ich hörte es nicht mit den Ohren. Das muss verrückt klingen!“
Bardo nickte. „Nein, verrückt ist das nicht. Wir werden das noch weiter erforschen. Ich glaube, es kann der Schlüssel sein, um Ardin wirklich zu unserem Verbünden zu machen.“
„Du denkst, dass Nerissas Gesang und Maries Zärtlichkeit nicht genügen?“, fragte Jando, nun wieder angespannt.
Der Meister entgegnete: „Ich glaube, dass Nerissas Plan so weit aufgeht, dass Ardin uns hilft, Narda zu befreien. Aber ja, ich fürchte, er wird sich wieder an seine Pflichten erinnern, so bald er die Möglichkeit hat.“
Borgun brachte zu bedenken: „Er darf auf keinen Fall in eine Kirche gehen. Und vielleicht gibt es auch an anderen Orten diese Gedenktafeln!“,
Merten hatte alles beobachtet und mit angehört, nun mischte er sich ein. „Wie ist euer Plan und was kann ich beitragen?“
Bardo erklärte: „Wir brechen auf, sobald Nerissa und Ardin bereit sind. Borgun spielt den Leibwächter von Ardin, Jando spielt den Vater von Narda, Nerissa ihre Mutter, Finn spielt ihren Bruder. Wir anderen sind nur zufällig auf demselben Weg. Du Merten, bist ein kluger Bursche, wie es scheint. Du kannst für Verwirrung sorgen, wenn wir sie brauchen.“
Er fuhr fort: „Wenn alles nach Plan geht, holen wir Narda einfach ab. Die Soldaten werden kuschen, sie fürchten die Kirche! Wenn Ardin befiehlt, sagt, dass sie unschuldig ist und zu ihren Eltern gehört, dann müssen sie sie gehen lassen.“
„Aber wird Ardin Narda und uns wirklich gehen lassen?“, fragte Merten.
Der Meister antwortete leise: „Ardin ist verliebt und das ist für ihn ein überwältigendes Erlebnis. Wenn Nerissa recht hat, wird er Wort halten.“
„Und wenn nicht“, fügte er grimmig hinzu, „wird Engelbert tun, was getan werden muss“.
18. Soldaten
Wieder öffnete sich die Kerkertür und dieselbe Frau brachte Narda Wasser und eine Schüssel Brei. Das Mädchen sprach sie an, doch statt einer Antwort bekam sie nur eine Geste zu sehen: Die Magd zeigte mit den Fingern auf ihre Ohren. Sie musste taub sein, schlussfolgerte Narda. Bei ihr konnte das Mädchen nichts ausrichten.
„Konnte das ein Zufall sein?“, fragte sich Narda, das hämische Lachen des Mannes hinter der Tür deutete an, dass es keiner war! Wenn ihre Wachen wussten, was ihr Lied bewirken konnte, dann würde es auch der Fürst erfahren.
Sie hatte sich dem wütenden Mob stellen wollen, hatte sich zugetraut, sie zu beruhigen, für Frieden zu sorgen. Aber nun war sie Menschen ausgeliefert, die viel gefährlicher waren, und mächtiger. Verzweifelt suchte Narda nach einem Ausweg.
Als der Riegel das nächste Mal knarrte, blieb Narda einfach still sitzen. Sie konnte jetzt nichts anderes tun, als denken.
Marie hatte Ardins Kutte liebevoll wieder hergerichtet. Angetan damit und mit dem Abzeichen des Inquisitors auf der Brust durchschritt er das Tor von Goselar. Die Wachen standen stramm und ließen ihn und seine Begleitung ohne Fragen passieren. Merten führte sie auf direktem Weg zum Südturm, unter dem der Kerker lag. Auch die Wachen hier parierten.
„Wir haben nur Befehle befolgt, Herr! Uns wurde gesagt, sie wäre eine Hexe“, betonte die Dickere, der Dünnere nickte nur.
„Hol sie uns einfach“, befahl Ardin.
„Das würde ich gern tun Herr, aber es ist nicht möglich. Vor einer Stunde ist das Kind abgeholt worden“, der Dicke zitterte fast.
„Wer hat sie abgeholt und wo bringt man sie hin?“, Ardins Ton hatte jede Freundlichkeit verloren.
„Es waren die Abgesandten des Fürsten. Sie zeigten sein Siegel und nahmen das Kind mit“, erwiderte der Dünnere, „vielleicht holt ihr sie noch ein, sie fragten mich, wo es Proviant und etwas zu trinken gibt. Ich empfahl ihnen die Schenke am Nordtor.“
„Habt Dank“, antwortete der Inquisitor, „wir müssen sofort aufbrechen.“
Merten warf ein: „Ich weiß, wo das ist, kommt!“
Sie folgten dem jungen Mann, ohne zu zögern. Jando hörte den Stein, der den Wachen vom Herzen fiel, geradezu fallen. Im Laufschritt erreichten sie die Schenke. Vor dem Tor stand ein Planwagen mit dem Emblem des Fürsten.
„Wartet einen Moment“, sagte Bardo, „Habt ihr gemerkt, was der dünne Wächter gemacht hat, als wir kamen?“
Jando nickte. „Ja, er zog etwas aus seinem Ohr und warf es weg.“
„Genau! Der hatte seine Ohren verstopft! Das ist sicher kein Zufall. Seid auf der Hut!“
Ardin verstand nicht, was das bedeuten sollte, aber im Moment schien ihm anderes wichtiger. Er schob die Plane des Wagens beiseite und sah das Mädchen, das er suchte. Narda lag da, ihre Hände und Füße waren an die Planken des Wagens gefesselt und ihr Mund war geknebelt. Sie zitterte und er erkannte in ihren Augen die blanke Furcht. Borgun drängte ihn zur Seite, um das Mädchen zu befreien, doch Bardo hielt ihn zurück.
„Warte, wir müssen die Soldaten außer Gefecht setzen. Wenn wir Narda einfach mitnehmen, suchen uns bald ganze Horden!“
Narda vergoss Freudentränen, als sie Borgun erkannte. Der nahm ihr den Knebel raus und lockerte ihre Fesseln, legte ihr das Band aber locker wieder um. Sie verstand sofort, was Bardos Plan war.
Ardin betrat als Erster die Schenke, gefolgt von Borgun und den anderen. Mit festem Schritt ging der Inquisitor auf die Soldaten zu, die an einem Tisch saßen und fröhlich tranken.
„Ihr beiden da, wie lautet eure Order?“ Ardin sprach sie mit harter und lauter Stimme an.
Beide erhoben sich, nahmen Haltung an. „Wir haben Befehl vom Fürsten. Wir müssen etwas zum Hof bringen“, sagte der Ältere.
„Euer Befehl ist hinfällig, ich requiriere euren Wagen und das Pferd.“
„Das könnt ihr nicht, wir führen einen Freibrief des Fürsten!“
„Als Inquisitor der großen Weisheit widerrufe ich euren Befehl. Ihr dient jetzt mir!“
„Das dürfen und tun wir nicht, Herr! Trink aus, Wigurd, wir müssen weiter!“
Beide leerten im Stehen ihre Becher, warfen Kupferstücke auf den Tisch und versuchten zu gehen. Borgun stellte sich ihnen in den Weg wie eine lebende Mauer, aber Bardo winkte ihn mit der Hand zur Seite. Der Riese verstand und gab den Weg frei.
Der Ältere sah unter die Plane, dann bestieg er den Kutschbock, er versuchte es jedenfalls. Während er zusammenbrach, zog der andere sein Schwert aus der Scheide, aber auch er war schon zu schwach, um noch etwas auszurichten.
„Gut gemacht Nerissa“, lobte Bardo die Kräuterkundige.
Merten sprang auf den Wagen und befreite Narda.
„Wo kommst du denn her?“, fragte sie mit einem Ausdruck von Verwirrung, dann umarmten sie sich.
„Wirf die Stricke nicht weg, die brauchen wir noch“, raunzte Borgun.
Nachdem das junge Paar abgestiegen war, warf der Hüne die beiden Soldaten auf die Ladefläche. Jando schmierte Straßendreck über die fürstlichen Embleme auf der Plane, dann brachen sie auf. Ardin nahm den Platz auf dem Kutschbock ein, die anderen gingen nebenher.
Die Autorität des Inquisitors ersparte ihnen Kontrollen am Stadttor. Erst im Schutz des Waldes rasteten sie und beratschlagten.
„Wie lange werden die beiden schlafen und was machen wir mit ihnen?“, fragte Jando.
„Es dauert einen Tag, vielleicht sogar zwei, bis sie wieder aufwachen und keine Ahnung haben, was geschehen ist. Wir können sie irgendwo aussetzen“, antwortete die Heilerin.
„Wir sollten sie einfach ...“, setzte Borgun an, aber bemerkte dann, dass Bardo schnell einen Finger auf seine Lippen legte.
„Wir müssen ihnen die Waffen, die Rüstungen, die Siegel und den Freibrief abnehmen. Ohne all das brauchen sie Wochen, um sich zum Fürstenhof durchzuschlagen“, spekulierte Jando.
„Ich habe eine andere Idee“, sagte Bardo, „wir bringen sie vor die Stadt, an den Weg, auf dem sie gekommen sind. Ihren Wagen demolieren wir. Wenn sie aufwachen, werden sie glauben, sie wären damit verunglückt.“
Jando warf ein: „Ihre Siegel und der Freibrief können uns vielleicht noch helfen.“
Bardo antwortete grinsend: „Schau dir die Sachen genau an und tu, was du kannst, sie nachzumachen. Wir fahren den Wagen um die Stadt!“
In der Dämmerung machten sie sich auf den Weg. Jando hatte Kopien der Siegel und des Freibriefes angefertigt. Sie würden wohl nur einer oberflächlichen Kontrolle standhalten.
Als sie die andere Seite von Goselar erreichten, erleuchtete nur noch der Mond ihren Weg. Borgun schmiss die beiden Soldaten aus dem Wagen, dann zertrümmerte er die Deichsel und ein Rad. Jando wollte ihnen die Waffen zurück in die Scheiden stecken, doch Borgun riss sie ihm aus der Hand. Er zog die Schwerter über einen Felsbrocken, wieder und wieder, nahm sich dann die Dolche vor. Erst als die Waffen stumpf waren, steckte er sie die Halterungen.
Bardo wandte sich an ihn: „Das Pferd nehmen wir mit. Es wäre bei so einem Unfall verletzt worden und wir können es gebrauchen. Richte alles so her, dass es aussieht, als hätte es sich losgerissen.“
Dann sprach er Jando an: „Stecke ihnen deine Fälschungen in die Taschen, wir behalten die echten Sachen!“
Obwohl es spät war, machten sie sich wieder auf den Weg. Sie waren sich einig, besser Abstand zu haben, wenn die Soldaten erwachen würden.
Während sie gingen, sah Ardin in Gedanken nur Marie, seine Marie. Aber etwas störte seinen Wachtraum: Er erinnerte sich an die Kerkerwachen und die Ohrenstopfen und fragte sich, was die Truppe vor ihm verheimlichte.
19. Vertrauen
Die Gaukler waren nach Mardenach zurückgekehrt, sehnsüchtig erwartet von Marie. Nerissa grinste, als Ardin sofort mit der Bauerntochter verschwand. Bardo bat Merten, sich um das Pferd zu kümmern, die anderen versammelte er zu einer Lagebesprechung um sich.
„Was machen wir mit den beiden?“, war die Frage, die er allen stellte. Er ergänzte selbst: „Merten ist ein schlauer Kopf, sonst hätte er uns nie finden können. Ardin hat sich lange von Engelbert im Kreis herum führen lassen, er ist eben einer von unten.“
Erst nach längerem Schweigen antwortete Jando: „Vielleicht möchte der Junge mit uns gehen. Wir können ihn gebrauchen, und du, Narda wärst wohl glücklich darüber.“
Finn öffnete den Mund, aber bevor er etwas sagen konnte, antwortete schon Narda: „Ja, er muss mit!“
Die anderen nickten. Nur Finn senkte den Kopf, widersprach aber auch nicht.
Jando fuhr fort: „Ardin ist ein schwieriger Fall. Er hat mitgespielt, ohne seine Hilfe wäre die Befreiung viel schwerer geworden. Trotzdem traue ich ihm nicht weiter als einer Elster an der Schmuckschatulle. Er kann jederzeit wieder die Seite wechseln und uns gefährlich werden.“
„Mitnehmen können wir ihn nicht“, antwortete Bardo, „er kann uns nicht als Lehrer helfen, er kann auch nicht kämpfen wie Engelbert.“
Borgun wand ein: „Mit seinem Abzeichen und der Kutte kann er uns aber Türen öffnen, Probleme aus dem Weg räumen.“
Jando antwortete: „Ja, sicher. Die Frage ist aber, ob er überhaupt mitgehen will.“
„Das glaube ich nicht“, sagte Nerissa, „er wird bei Marie sein wollen und die können wir nicht auch noch mitschleppen!“
„Ja, er muss hierbleiben, bei Marie“, antwortete Bardo, „aber wie ist das möglich? Er ist kein Bauer, kein Handwerker, er hat keine Fähigkeit, mit der er in dieser Welt seinen Lebensunterhalt verdienen könnte.“
Nerissas Augen blitzten auf: „Dieses Dorf hat keinen Pfarrer. Die kleine Kirche wird seit Jahren nicht genutzt. Wir können Ardin hier als Pfarrer installieren!“
„Das ist nicht dein Ernst!“ prustete Jando los, „er weiß nichts über diese Welt. Vermutlich kennt er das Weisheitsbuch auswendig, wenn die unten überhaupt dasselbe haben, aber in unserer Welt die Menschen taufen, verheiraten und begraben? Wie soll das gehen?“
Bardo sprach: „Doch, ich glaube, das müsste gehen. Narda, du bist die Beste darin, Nerissa kann helfen, wenn du etwas nicht weißt. Ihr versetzt ihn in Trance und bringt ihm bei, was er braucht, um die Aufgaben eines Dorfpfarrers erfüllen zu können!“
Es gab keinen Widerspruch, aber einige Gesichter voller Zweifel.
„Ich kann die Kirche herrichten“, schlug Borgun vor.
Bardo nickte: „Ja, da gibt es wohl einiges zu tun. Merten kann helfen. Vor allem müsst ihr gründlich nach einer Stiftertafel suchen und wenn ihr eine findet, den Mechanismus dahinter zerstören.“
Jando wand ein: „Sei vorsichtig dabei. Wir wissen nicht, wie das funktioniert. Es soll danach noch genauso aussehen wie vorher, aber es darf keine Nachrichten übertragen, vor allem nicht wenn du daran arbeitest.“
„Wie verkaufen wir es den Dorfbewohnern?“, fragte Finn.
Bardo antwortete: „Das kriegen wir hin: Ardin hat den geistlichen Rang, um sich selbst als Pfarrer ins Amt einsetzen zu können. Den Freibrief des Fürsten können wir nutzen, um das alte Kirchhaus in Besitz zu nehmen.“
„Aber wer verheiratet ihn mit Marie? Das kann er schlecht selbst machen.“, warf Jando ein.
Bardo hatte auch dazu eine Idee, allerdings eine gewagte: Sie würden den Pfarrer aus Goselar holen und bitten, die Trauung zu vollziehen. Die wiedereröffnete Kirche gleich mit einer Hochzeit einzuweihen, sollte ein perfekter Anfang für sie sein.
Narda fragte Jando: „Bin ich an all dem schuld?“
Der Gaukler tröstete das Mädchen: „Es ist manchmal schwer, sich zwischen Vernunft und Gewissen zu entscheiden. Schäme dich nicht, dass du deinem Herzen gefolgt bist. Überlege dir lieber, wie du es besser machen kannst, wenn du wieder jemandem helfen willst!“
„Ich weiß nicht, was ich hätte tun sollen. Wenn man ein Kind sterben sieht, dann muss man doch helfen!“
„Ja, Narda! Du hast aber, weil dein Herz regiert hat, vergessen, was du kannst!“
Narda fragte nach: „Was meinst du?“
„Dein Lied, Narda! Nutze die Macht, die du hast. Wenn jemand sieht, dass du etwas tust, was er nicht begreift, kannst du es ihn einfach vergessen lassen!“
„Daran hatte ich nicht gedacht und die Zeit blieb auch nicht.“
„Ich weiß“, antwortete der Gaukler, „Meister Bardo zog dich sofort weg, Warum bist du von Borgun ausgerissen und hast dich in Gefahr gebracht?“
„Ich bin mir nicht sicher. Irgendwie glaubte ich, dass ich mit meinem Lied die Menschen beruhigen könnte, dass sie mir dann nichts tun würden.“
Jando nickte und sagte: „Die anderen glauben, du wolltest dich opfern, damit niemand anderes getötet wird.“
Das Mädchen antwortete: „Vielleicht stimmt das auch ein bisschen, aber damit habe ich euch alle noch mehr in Gefahr gebracht!“
Der Gaukler entgegnete ernst: „Eine Situation wie diese musste eintreten, das war nur eine Frage der Zeit. Das ist nicht deine Schuld! Es ist unsere Aufgabe, dich zu schützen. Du weißt noch nicht warum, aber du, genau du bist wichtig! Du musst lernen, noch besser werden und dazu musst du überleben und du musst frei sein.“
„Was macht dir Sorgen“, fragte das Mädchen.
„Ich frage mich, wann sie nach Ardin suchen werden“, antwortete Jando, „oder ob sie es vielleicht schon tun.“
20. Entscheidung
Borgun hatte mit Mertens Hilfe ein kleines Wunder bei der halb verfallenen Dorfkirche und dem kleinen Pfarrhaus vollbracht. Engelbert hatte, immer auf der Hut, um nicht von Ardin entdeckt zu werden, die Materialien beschafft und auch mit angefasst. Der Inquisitor besichtigte zusammen mit Marie ihr neues Reich und beide lobten das Meisterwerk.
Jando war nach Goselar geritten und hatte den Pfarrer aufgesucht. Er hatte ihn gebeten, die Kirche einzuweihen und die Trauung zu vollziehen.
Am Sonntag war es so weit. Marie wartete mit ihren Eltern vor der Kirche, Ardin, in einem Gewand, das sie für ihn genäht hatte, stand in züchtigem Abstand daneben. Die Gauklertruppe und alle Dorfbewohner standen bereit. Der Goselaer Pfarrer reiste luxuriös an: Eine zweispännige Kutsche näherte sich der Kirche und Ardin schritt ihr entgegen.
Ein Reiter folgte der Kutsche im schnellen Galopp. Er schrie etwas Unverständliches und Borgun warf sich vor Ardin, Jando sprang vor, um Narda zu schützen. Keine Sekunde zu früh: Vier Männer sprangen aus der Kutsche und schossen sofort ihre Bolzen ab. Auch der Kutscher ergriff seine Armbrust und schoss.
Die Bauersleute stoben auseinander. Bardo warf eine Kugel nach dem Kutscher, was den zusammensinken ließ. Borgun sprang auf und strecke einen der Schützen mit einem Fausthieb nieder, packte den Zweiten an der Kehle, bevor er seine Waffe wieder spannen konnte. Jando griff sich die Waffe des Kutschers und schlug sie dem dritten Angreifer über den Schädel.
Auch der vierte Schütze bekam keine Gelegenheit zum Spannen. Nerissa hatte nur auf einen Punkt an seinem Hals gedrückt und er kippte zur Seite.
„Wurde jemand getroffen?“, rief Bardo.
Niemand antwortete, doch Nerissa rannte los: Ardin kniete am Boden, über Marie gebeugt. Ihr Hochzeitskleid war nicht mehr weiß. Die Heilerin sah, wo der Bolzen steckte und wusste, dass sie nichts mehr tun konnte. Marie war tot. Ardin weinte, vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben. Er hatte gerade erst gelernt, zu lieben, nun musste er es lernen, zu trauern.
Bardo ließ ihm dazu nicht viel Zeit. Er rief „Es kommen bestimmt noch mehr, wenn nicht gleich, dann spätestens morgen. Ardin, du hattest als Inquisitor das Recht, Todesurteile zu verhängen. Das dürfte verfallen sein, denn sie haben auch dich angegriffen. Trotzdem kannst du bestimmen, ob der Mörder deiner Braut sterben soll. Borgun kann sie alle im Fluss ersäufen, du brauchst es nur zu sagen!“
Ardin öffnete den Mund, setzte zu einem „ja“ an, doch er schloss ihn wieder, bevor es vollendet war, und schüttelte langsam den Kopf.
„Spann mir eine Armbrust, bitte“, sagte er nach einem Moment. Der Bolzen in Maries Brust hatte einen blauen Ring, das gleiche Blau war auf dem Wams des ersten Schützen zu sehen. Borgun brachte den Mann mit zwei Backpfeifen zu Bewusstsein, dann reichte er Ardin die Waffe.
„Wer ist euer Kommandeur?“, Ardin ging langsam auf den Mörder zu, die Armbrust auf dessen Herz gerichtet.
Schritt für Schritt kam er dem Soldaten näher. „Ich werde dich nicht verfehlen. Sprich, wenn du leben willst!“
In seiner Stimme lag Entschlossenheit und Zorn. „Sprich jetzt oder fahr zur Hölle!“
„Der Befehl kam von unten. Wir mussten gehorchen, du bist vogelfrei“, wimmerte der Soldat.
Ardins Finger lag auf dem Abzug. Einen Moment ging es ihm durch den Kopf, dass er ja auch seine Befehle ausgeführt hatte, sich niemals gefragt hatte, ob sie richtig waren oder falsch. Doch sein Zorn war groß genug, um den Abzug durchzudrücken. Dann körte er es, Narda sang und Ardin fühlte, dass er kein Mörder war, dass er kein Leben nehmen wollte.
Er richtete die Waffe auf die Kirchentür und der Bolzen schlug in sie ein.
Bardo entlockte dem eingeschüchterten Soldaten einige weitere Informationen, dann überließ er ihn und die anderen Soldaten Borgun, der ihnen einen Trank von Nerissa einflößte und sie fesselte.
Der Meister kommandierte: „Wir müssen uns beeilen: Vier in die Kutsche, Borgun, lenkt. Wir holen unsere Sachen aus dem Lager vor dem Dorf, dann müssen wir weg von hier. Nerissa, Engelbert, ihr reitet zusammen auf dem Pferd. Wir treffen uns in der Tanne! Los jetzt!“
„Ihr habt mich die ganze Zeit belogen!“, sagte Ardin zu Jando während der Fahrt, „Engelbert ist am Leben!“
„Ja“, antwortete Jando, „so lange wir deiner nicht sicher waren, hätte es Engelberts Leben in Gefahr gebracht, wenn du gewusst hättest, dass er auf unserer Seite steht.“
Die Truppe zog eilends weiter, vermied die nächsten Dörfer und bewegte sich abseits der befestigten Wege. Nerissa und ihr Freund hatten sie eingeholt. Engelbert besorgte regelmäßig zu Pferd Proviant. Das Zeichen an seinem Umhang sorgte dafür, dass er überall etwas bekam, aber er war vorsichtig geworden, er wusste nicht, ob vielleicht auch er schon gesucht wurde.
„Was ist das mit deinem Lied, Narda“, fragte Ardin.
„Meine Mutter hat mich das gelehrt. Mein Gesang bringt Menschen dazu, ruhig zu werden, Zorn abzulegen und zu glauben, was ich ihnen sage.“
„Könnt ihr das alle? Hat Nerissa mich so zum Verräter gemacht?“
21. Das Versteck
Bardo beschloss, dass Schnelligkeit mehr nützen würde, als Verborgenheit. Sie fuhren deshalb mit der Kutsche auf befestigten Wegen. Nur Städte mieden sie, für den Fall, dass Wachen informiert wären. Ihr Weg führte sie ins Gebirge bei Goselar.
„Wohin fahren wir eigentlich?“, fragte Narda und fügte hinzu: „Was hat es mit der Tanne auf sich?“
Bardo erklärte es: „Wir haben im Gebirge ein Versteck. Es liegt unter der Erde, genau wie Ardins Kloster. Wir verbringen dort auch meistens die Winterzeit. Es ist eine sichere Zuflucht.“
„Unter der Erde?“, Narda war verwundert, „ist das eine Höhle?“
„Nein, es ist ein künstliches Bauwerk. Niemand weiß, wer es geschaffen hat. Vielleicht war es einst so etwas wie ein Modell für ein unterirdisches Kloster. Unsere Vorgänger haben den Eingang entdeckt und sich eingenistet.“
„Ich habe kein gutes Gefühl dabei!“, Narda wandte sich an Ardin: „Weißt du etwas von solchen Orten?“
„Es gibt verlassene Klöster, das weiß ich. Sie wurden irgendwann zu klein und wurden aufgegeben. Ich habe nie davon gehört, dass es noch Verbindungen zu den großen Klöstern gibt, aber sicher weiß ich es nicht.“
Da war ein Zucken in Ardins Gesicht, das Narda Angst machte.
Bardo nutzte die Gelegenheit: „Ardin, Finn, Merten und Narda, ihr müsst bei eurem Leben schwören, dass ihr das Geheimnis dieser Zuflucht bewahrt. Egal, was passiert! Ihr werdet lieber sterben, als es zu verraten. Hebt die rechte Hand und sagt es: Ich schwöre es bei meinem Leben!“
Narda sprach den Satz als Erste aus, mit sicherer Stimme, Merten folgte, ohne zu zögern. Finn und Ardin schworen schließlich auch. Merten hatte seinen Arm um Nardas Schultern gelegt und sie kuschelte sich an ihn.
Finn wandte sich an Ardin, um ihn auszufragen, wollte wissen, wie die Mönche leben und was es mit der Kolonie auf Celtis Vier auf sich hat. Ardin erklärte ihm alles, was der Junge wissen wollte und bei dem Thema Kolonie schwärmte er regelrecht.
Auch Jando hörte sehr genau zu. Er erkannte das Bedauern in der Stimme des Inquisitors.
Die Fahrt war vorbei, der Weg wurde zu schmal und zu steil für die Kutsche. Borgun spannte die Pferde aus und schob das Gefährt zwischen die Fichten. Sie übernachteten am Waldrand und setzten die Reise am nächsten Morgen zu Fuß fort.
Der Meister führte sie am folgenden Abend zu einer Lichtung. Borgun räumte Gestrüpp beiseite und machte eine Rampe frei, die nach unten führte. Sie endete an einer metallenen Wand. Jando holte ein Rad aus einem hohlen Baum. Die kurze Achse dieses Rades steckte er in ein Loch in der Wand, dann überließ er Borgun das Feld. Bardo drückte auf einen Vorsprung an der anderen Seite der Wand. Borgun drehte das Rad nach links und ganz langsam tat sich eine Öffnung zwischen den beiden Stellen auf. Es war eine Tür, hoch und breit genug für eine Kutsche und ganz aus Metall.
Während Borgun kurbelte, erkundeten Merten, Finn und Narda die Umgebung. Tannen gab es hier nicht, aber reichlich Fichten. Dass in diesem Berg, unter diesem Wald, ein Bauwerk lag, war auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Das Mädchen entdeckte, aber dann doch, dass ein Teil der Bäume nicht echt war. Die Oberfläche der Stämme fühlte sich ganz anders an als jede Baumrinde. Dies waren Säulen, die aus dem Boden ragten, und davon gab es viele. Es schien fast jeder zweite Baum in diesem Gehölz etwas Künstliches zu sein und die Fläche, über die sie sich verteilten, reichte weiter, als die Drei übersehen konnten,
Als sie zurückkehrten, war das Tor zur Seite gekurbelt und sie konnten eintreten. Zu ihrer Verblüffung war es innen hell. Nicht das schummrige Licht von Kerzen oder Laternen, nein, der Raum war taghell erleuchtet. Und Raum war ein falscher Ausdruck, für das, was sie sahen: Es war eine Art Straße, die weiter nach unten führte. Die Kinder liefen, um die anderen einzuholen.
Die Truppe versammelte sich am Ende dieser Straße, in einer Halle mit mehreren Türen. Auch Nerissa und Engelbert hatten sich inzwischen eingefunden. Bardo öffnete eine der Türen und führte alle in einen Raum mit Dutzenden von Tischen und Stühlen. Wie durch Zauberei taten sich Schränke auf mit Bechern, Tellern und Schalen und alles sah aus, als wäre es für ein Königsschloss bestimmt. Seltsame Apparaturen ragten aus den Wänden. Jando nahm einen der Becher und hielt ihn unter eine solche Vorrichtung. Wasser floss in das Gefäß. Der Spaßmacher zelebrierte es wie ein Zauberkunststück. Für die Kinder war dies so etwas wie ein anderer Planet. Narda erinnerte sich an eines ihrer Bücher. Sie hatte von so etwas schon gelesen.
„Willkommen im Werk Tanne!“, verkündete der Meister, „macht es euch gemütlich!“
Narda fragte Bardo, wie all das funktioniert. Er räumte ein, das auch nicht genau zu wissen. Immerhin, die Pythagoräer hatten herausgefunden, dass die künstlichen Bäume an der Oberfläche die Energie lieferten.
Ardin hingegen schien sich wie zu Hause zu fühlen.
„So sah es früher im Kloster aus“, sagte er.
Jando zeigte Ardin und den Kindern die wichtigsten Teile der Anlage und erklärte ihnen, wie sich orientieren konnten. Es war absolut faszinierend, dass Türen sich von allein öffneten und Zimmer erleuchtet wurden, sobald man sie betrat. Der Gaukler ermunterte die Kinder, die Anlage selbst weiter zu erkunden. Sie war viel größer, als Narda geahnt hatte: Es gab Schlafsäle mit Dutzenden Stockbetten, aber auch einzelne Zimmer mit jeweils einem Bett, einem Tisch und einem Stuhl. Das Mädchen wusste inzwischen, dass der erste Raum, den sie gesehen hatte, ein Speisesaal war. Auch davon fanden sie Mehrere. Narda erkannte einen Raum als eine Krankenstation, andere Zimmer enthielten technische Einrichtungen, die keiner der Drei verstand. Viele Türen waren verschlossen, die Kinder erkannten aber kein Schlüsselloch. Daneben sahen sie dann immer eine Platte mit Ziffern darauf.
An einer Weggabelung schlug Finn vor, sich aufzuteilen, in verschiedene Richtungen auszuschwärmen: „Wir treffen uns bei Zentrale vier wieder.“
Die beiden anderen nickten. Narda ging nach links, Finn geradeaus und Merten rechts. Narda drehte sich nach einigen Metern um und kehrte zur Abzweigung zurück, vergewisserte sich, dass Finn außer Sicht war und folgte dann Mertens Weg. Sie holte ihn schnell ein, aber er war nicht allein. Finn war bei ihm und entschuldigte sich gerade. „Tut mir leid, ich hatte nicht daran gedacht, dass du ja gar nicht lesen kannst. Da solltest du besser nicht allein hier herumirren!“
„Ich hatte denselben Gedanken“, sagte Narda, „ich begleite Merten!“
Finn nickte still und ging zurück zur Abzweigung.
„Das war Absicht, oder?“, fragte Merten.
Sie nickte. „Bestimmt. Er macht sich Hoffnungen und hasst es, wenn wir beide zusammen sind!“
„Das ist nicht gut“, antwortete Merten, „wir sollten alle zusammenhalten!“
Narda antwortete zögernd, „Ja, aber Menschen haben manchmal Gefühle, die das schwer machen. Am besten, du stellst dich ein bisschen dümmer, als du bist. Finn muss nicht wissen, dass ich dir das Lesen beigebracht habe! Sollte es nötig werden, kannst du ihn damit überlisten.“
Sie umarmten sich, genossen die Nähe und Wärme, die sie einander geben konnten. Nach ein paar Minuten der Innigkeit gingen sie Hand in Hand weiter. Bei ihrer Erkundung stießen Sie auf verschlossene Türen, jeweils mit der Aufschrift „Technik“ und einer Nummer. In anderen Räumen fanden sie Reihen von Tischen und Stühlen und auf den Tischen jeweils einen Kasten mit glatter, glänzender Oberfläche sowie ein Feld aus Buchstaben und Zahlen.
Sie kehrten zurück zur Abzweigung und der Tür von „Zentrale vier“, wie ein Schild verriet. Auch in diesem Zimmer standen Tische mit den seltsamen Kästen. Finn war hinein gegangen und hatte an einem der Apparate einen Hebel gefunden und gedrückt. Als Narda und Merten eintraten, sahen sie Finn, der auf eine Wand starrte. Dort war eine Schrift erschienen:
„Willkommen, was kann ich für dich tun?“
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