Nardas Lied

Kapitel 8- 14
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8. Verfolgte Verfolger
Ardin und Engelbert folgten der Spur der Gaukler schon einen halben Mond. Hier hatte man sie gesehen, dort hatte jemand etwas aufgeschnappt, aber der Abstand schien immer gleich zu bleiben. „Wie kann das sein, Engelbert, dass wir sie nicht einholen? Wir reiten, die Zirkusleute gehen zu Fuß. Wieso haben wir sie nicht längst eingeholt?“
„Das verstehe ich auch nicht, Herr. Vielleicht führt man uns in die Irre?“ Er streichelte den Bogen seiner Waffe.
„So muss es sein, aber ich konnte bei den Leuten keine Lügen erkennen. Wieso sollten sie auch: Vor uns haben sie Angst, mit der Gauklertruppe verbindet sie nichts. Im Gegenteil: Man findet die verdächtig, zählt seine Hühner nach, wenn sie da waren!“
„Ja, die Menschen hier mögen solche Herumtreiber nicht, sind immer misstrauisch, aber…“ der Diener druckste herum.
„Was ist los Engelbert, raus damit!“
„Herr, ich habe das Gefühl, dass auch wir verfolgt werden. Ich kann nicht sagen, wer es ist, aber manchmal bemerkte ich Schatten, wenn wir übernachten. Wenn ich mich umdrehe, sehe ich manchmal, wie sich was bewegt, jemand der nicht gesehen werden will.“
Ardin spitzte die Ohren. „Wann hat das angefangen?“
„Das erste Mal habe ich etwas gemerkt, als wir das Boot fanden, seitdem immer wieder.“
„Heute Nacht bleibt immer einer von uns wach! Wenn du wieder das Gefühl hast, dass da jemand ist, weckst du mich sofort. Ich übernehme dann die zweite Wache.“
„Ja, Herr! Was meint ihr, sind wir überhaupt auf der richtigen Fährte?“
„Ganz sicher Engelbert. Es sind zwei Kinder bei der Truppe. Das Mädchen ist zwar dunkelhaarig, aber Haare kann man färben. Einige der Darbietungen, von denen erzählt wurde, riechen nach Hexerei. Ich bin sicher, sie haben das Mädchen dabei. Wir müssen sie finden!“
Ardin legte sich zur Ruhe während Engelbert das Feuer, am Brennen hielt. Von Zeit zu Zeit ging er auf und ab, starrte hinaus in die Dunkelheit des Waldes. Das Lagerfeuer hielt wilde Tiere fern, trotzdem hatte der Diener seine Armbrust gespannt und einen Bolzen eingelegt.
Gegen seinen Willen nickte er ein. Da, ein Rascheln! Es kam von dem Weg, den sie geritten waren. Engelbert war wieder hellwach und seine Hand hatte er an der Waffe. Mit der anderen Hand griff er nach einer bereitgelegten Fackel, stocherte damit im Lagerfeuer herum, als wollte er es anfachen. Als die Fackel brannte, sprang er auf und lief in Richtung Weg.
Da war jemand, da musste jemand sein, aber der Schemen verschwand schneller in der Dunkelheit, als der Diener rennen konnte. Er weckte seinen Herrn. Mit einer zweiten brennenden Fackel untersuchten sie die Stelle genauer. Alles, was sie fanden, war ein angebissener Apfel auf dem Boden. Jetzt stand fest, jemand folgte ihnen, beobachtete sie. Aber warum?
9. Wie lange noch
Seit Wochen waren sie unterwegs. Jeden Tag hatte es neue Aufgaben gegeben, neue Herausforderungen. Narda hatte viel dazugelernt, kannte sich mit Heilkunde aus, wusste, wozu die Pflanzen des Waldes zu gebrauchen waren. Sie konnte nicht mehr nur rechnen, sondern Gleichungen lösen und Formeln anwenden, mathematische Beweise finden. Sie wusste, wie sie mit einem Hebel ihre Kraft vervielfachen kann und hatte auch verstanden, was bei ihrem Experiment mit dem Frosch wirklich passiert war, dass sie eine Batteriezelle gebaut und elektrischen Strom erzeugt hatte. Finn und sie spornten sich gegenseitig an, immer mehr zu verstehen.
Auch bei Auftritten wirkten die Kinder nun routiniert mit, vollführten leichtere akrobatische Übungen und sammelten die Applausmünzen ein. Jando hatte sie auch eine Kunst gelehrt, die dem Mädchen gar nicht gefiel: die Kunst des Taschendiebstahls. „Keine Angst Narda, wir stehlen, nicht um uns zu bereichern! Es kann aber der einzige Weg sein, unser Leben zu retten.“
Genau wie bei allem anderen begriffen die Kinder schnell: Finn lenkt das Opfer durch eine Frage ab, Narda schnappt sich seinen Beutel und gibt ihn in einer Drehung Jando. Einmal so, dann mit anderer Rollenaufteilung, aber immer nach demselben Prinzip.
Die Reise war nicht langweilig, aber die Frage war schließlich unvermeidlich und Finn stellte sie: „Wann sind wir da?“
Jando grinste Narda an: „Du weißt es, oder?“
Das Mädchen antwortete zögernd: „Wir sind längst da, oder?“
„So ist es Kinder! Unsere Schule ist kein Haus, sondern immer auf Reisen. Unterwegs stoßen neue Schüler zu uns, einige werden später selbst Lehrer und reisen weiter mit, viele gehen auch ganz andere Wege, wenn sie genug gelernt haben.“
Was für Narda keine wirklich neue Erkenntnis war, schien Finn deutlich mitzunehmen. Er nickte still und legte sich schlafen.
Das Mädchen hatte schon geschlafen, als ein Geräusch sie weckte. Finn schien zu schluchzen. Aber da war noch etwas. Sie sah, dass Nerissa mit einer Laterne aus dem Lager schlich. Narda erinnerte sich daran, dass immer mal wieder ein Verfolger bemerkt worden war. Es war unvorsichtig, allein bei Nacht das Lager zu verlassen. Noch unvorsichtiger wäre es, wenn ein Kind ihr folgen würde, aber genau das wollte Narda jetzt tun. Sie stieß Finn an und flüsterte: „Komm mit, schnell aber leise!“
Finn wischte sich die Tränen ab und stand auf. Das Licht der Laterne war noch nah und wies den Kindern den Weg. Sie folgten dem Schein vielleicht 200 Meter. Dort traf Nerissa einen Mann, den sie nicht kannten. Narda zog Finn zu einem Baum, so waren sie außer Sicht. Nerissa küsste den Mann, dann gab sie ihm etwas. Die Kinder hörten das Gespräch der beiden mit:
„Er wird ungeduldig und misstrauisch! Ihr müsst eine falsche Spur legen, der wir folgen können. Er ist nicht dumm, und wenn ich ihn töte, ist mein Leben auch nichts mehr wert!“, sagte der Fremde.
„Wir überlegen uns was.“
„Da ist noch was anderes: Es gibt noch einen anderen Verfolger. Der scheint hinter uns her zu sein, vielleicht aber auch hinter euch. Ich habe keine Ahnung, wer das ist!“
„Von unten kann er nicht sein, die nehmen immer einen Helfer mit.“
„Ja, aber weshalb sollte uns oder euch jemand aus dieser Welt verfolgen?“
Den Rest des Gesprächs konnten die Kinder nicht verstehen, auch weil Nerissa und der Mann sich umarmten, wieder küssten und zusammen zu Boden sanken. Finn und Narda schlichen den Weg zurück, auf dem sie gekommen waren. Das Mädchen erklärte dem Jungen, was die beiden Erwachsenen da jetzt taten. Immerhin waren Finns Tränen nun vergessen.
Am Morgen passte Narda Nerissa ab: „Ich habe gesehen, dass du gestern einen Fremden getroffen hast. Wer war das?“
„Er ist ein guter Freund, der uns manchmal hilft, genau wie die Nonne, die Finn geschützt hat. Es hilft sehr, wenn man Verbündete im Lager des Feindes hat.“
„Ich habe gehört, wie er vom Töten gesprochen hat!“
„Ja, er würde jemanden umbringen, um uns zu retten, aber nur, wenn es nicht anders geht. Wenn ihr das schon gehört habt, könnt ihr auch mit überlegen: Der Mann, dem er dient, soll auf eine falsche Fährte geführt werden. Wenn wir in Richtung Osten gehen, soll er nach Westen gehen, und das so weit, dass er uns nicht wiederfindet.“
„Es wäre am besten, wenn er den falschen Weg gegen den Rat deines Freundes wählt.“
„Gute Idee, das dient seiner Sicherheit. Aber wie machen wir es?“
„Einer von uns müsste wirklich den falschen Weg gehen und dabei so viele Spuren wie möglich hinterlassen, abgeknickte Zweige und so was“, sagte Narda.
„Ja, aber die deutlichsten Spuren hinterlässt der Esel mit dem Karren“, trug Finn bei.
Sie beratschlagten den Plan noch mit den anderen. Als sie das Lager auflösten, war es beschlossene Sache: Nerissa würde mit dem Eselskarren allein in Richtung Westen gehen, sich auffällig verhalten.
Die anderen würden nach Osten ziehen.
„Aber wie kommt Nerissa wieder zu uns?“, fragte das Mädchen.
„Ich finde einen Weg, aber den Karren verlieren wir“, antwortete diese.
Sie verteilten die wichtigsten Sachen aus dem Karren auf Rucksäcke, dann brach die Gruppe auf. Nerissa ging noch eine Strecke mit, dann zurück, um die Fußspuren mit einem Zweig zu verwischen. Wieder auf der Lichtung ritzte sie ein Zeichen für ihren Freund in die Rinde eines Baumes, dann brach sie auf.
10. Nerissas Weg
Die Spuren sollten deutlich werden, aber auch nicht so aussehen, als wären sie mit Bedacht hinterlassen worden. Hier ein geknickter Zweig, dort ein Tritt in den Morast. Nerissa gab sich Mühe und der Esel leistete seinen natürlichen Beitrag. Engelbert würde den Hinterlassenschaften leicht folgen können. Rechts vom Pfad ging es steil bergab und in der Tiefe rauschte ein Fluss. Hinter der Wegbiegung lag das Dorf Mardenach. Dies war die richtige Stelle. Nerissa schirrte den Esel ab, nahm ihren gepackten Rucksack vom Karren und schob den Wagen über die Kante.
Der Karren schlug krachend auf. Nerissa sah sich die Trümmer von oben an. Bruchstücke des Wagens, Decken und Kleidungsstücke lagen dort verteilt. Sie brach noch ein paar Zweige von einem Strauch am Wegrand ab, um sie hinterherzuwerfen, riss ihren Umhang entzwei, griff mit der linken Hand fest in einen Dornenstrauch, dann war sie zufrieden mit ihrem Werk.
Sie setzte blutend ihren Weg zu Fuß fort. Noch bevor sie das Dorf erreichte, sah sie einen Bauern, der Saatgut auf sein Feld ausbrachte. „Wohin des Wegs“, fragte der sie.
Sie hob ihre blutende Hand. „Ich bin Nerissa. Meine Familie hatte einen Unfall, der Fluss riss sie mit sich fort. Ich bin verletzt.“
Der Bauer führte sie zu seinem Haus. Seine Frau bot ihr an, die Wunden zu versorgen, doch das konnte Nerissa selbst besser. „Habt vielen Dank, aber ich bin selbst Baderin und habe was zum Verbinden in meinem Rucksack.“
Einen Becher Kräutertee nahm sie aber gern an, ebenso wie das Angebot, sich erst einmal hinzulegen und erholen. Ihr Plan war es, auf das Erscheinen des Inquisitors zu warten und ihm dann von der Tragödie an der Schlucht zu berichten. Engelbert würde die nötigen Beweise finden, dass die anderen tot wären.
*
Nerissa wachte von lautem Gepolter auf. Engelbert hatte sich Zutritt zur Bauernstube verschafft. So war es geplant, doch etwas stimmte nicht: Ardin war nicht dabei!
„Was ist passiert Engelbert?“
„Ardin ist tot! Er wollte selbst in der Schlucht nachsehen. Ich habe ihn gewarnt, aber er bestand darauf, vertraute mit nicht. Er stürzte ab. Ich hörte noch einen Schrei, dann war es vorbei.“
„Nicht wie geplant, aber dann haben wir erst einmal Ruhe.“
„Nur vorübergehend! Ich muss zurück zu meinem Posten reiten und berichten. Dann werden sie einen anderen schicken, fürchte ich. Es wäre viel besser gewesen, wenn er gemeldet hätte, dass das Kind tot ist.“
„Lass dir Zeit mit dem Rückweg!“
„Nimm das Pferd des Inquisitors, dann erreichst du die Truppe schneller.“
Sie entschuldigte sich bei der Bauernfamilie und überließ ihr als Entschädigung den Esel. Ausführlich beschrieb sie ihr noch mal das Unglück, den Absturz ihrer Gauklertruppe. Gerade wollte sie aufsteigen, als sie einen Schrei hörte: Ein junger Mann kam angerannt: „Hilfe, kommt! Er ist verletzt!“
*
Ardin erwachte auf dem Bett in einer Kammer. Sein Kopf dröhnte und die Beine schmerzten. Er erinnerte sich, dass er versucht hatte, einen schmalen Pfad hinunter in die Schlucht, zu gehen. Er hatte den Halt verloren und gedacht, dies wäre das Ende. Doch er war nicht tot! Er versuchte, aufzustehen, doch das gelang ihm nicht; seine Beine waren mit Stöcken verbunden, geschient. Offenbar waren sie beim Sturz gebrochen. Er rief nach Hilfe und merkte, dass auch seine Stimme gelitten hatte und dass seine Kopfschmerzen dabei schlimmer wurden.
Trotzdem wurde er gehört. Nerissa trat in die Kammer und stellte sich als die Heilerin vor, die ihn versorgt hatte.
„Was ist mit meinem Begleiter?“
„Tut mir leid, er hat versucht, euch zu retten, dabei kam er selbst zu Tode.“
„Was genau fehlt mir?“
„Beide Beine sind gebrochen. Das wird ein bisschen dauern, bis ihr wieder gehen könnt. Alles andere sind Kleinigkeiten, von denen ihr euch schnell erholen werdet.“
„Wie bin ich hierhergekommen?“
„Ein junger Bursche kam zufällig des Weges und sah das Unglück. Er war geschickter als euer Begleiter und holte Hilfe. Zusammen mit dem Bauern schaffte er es, euch nach oben zu bringen.“
Ardin bat um seine Kutte und Nerissa gab sie ihm. Er nahm die Stofffetzen, griff in die verborgene Innentasche und fühlte, was er befürchtet hatte: Sein Stirnband war zerbrochen. Er konnte die Allwissenheit nicht erreichen, sein Diener konnte auch keine Verbindung mehr nach unten aufnehmen. Nicht nur der Mann war verletzt worden, auch sein Umhang war zerrissen.
Es gab ein Notfallprotokoll für so einen Fall, aber seine Kopfschmerzen wurden immer schlimmer. Solange er hier festlag, konnte er sowieso nichts tun.
11. Die dunkle Stadt
Der Himmel über der Stadt hing wie ein schmutziges Leichentuch zwischen den Türmen, als die Gaukler-Truppe durch das mächtige Stadttor schlich. Die Wachen ließen sie passieren - Gaukler waren willkommen, solange sie Ablenkung vom Elend brachten. Doch der Gestank, der ihnen entgegenschlug, ließ selbst den abgehärteten Meister Bardo die Stirn runzeln.
Narda presste den Ärmel ihres groben Leinenhemds gegen die Nase. Der süßlich-faule Pestgeruch mischte sich mit dem Rauch der Leichenfeuer, die schon am Stadtrand loderten. Die Gassen waren voller Menschen, die mit verhangenen Gesichtern hasteten, als könnte Schnelligkeit sie vor dem Tod bewahren.
„Wir teilen uns auf“, befahl Bardo mit gedämpfter Stimme. „Jando und Finn besorgen Vorräte. Ich erkundige mich nach den Straßensperren der Häscher. Das Mädchen bleibt bei mir.“
Nardas Finger zuckten. Sie wusste, was das bedeutete - sie war noch zu unerfahren, um allein durch diese pestverseuchte Stadt zu laufen. Doch während die anderen sich zerstreuten, spürte sie das Gewicht des kleinen Leinenbeutels an ihrem Gürtel. Die Mixtur aus Schimmelsud und bitteren Kräutern, die sie heimlich in den letzten Nächten gebraut hatte.
Dann hörte sie das Weinen.
In einem schattigen Durchlass zwischen zwei Häusern kauerte eine Frau über einem reglosen Bündel. Als Narda nähertrat, sah sie, dass es ein Junge war, nicht älter als zehn Jahre. Seine Haut war mit schwarzen Flecken übersät, seine Atemzüge flach und keuchend. Die Mutter hob den Kopf, und in ihren ausgemergelten Zügen lag eine solche Verzweiflung, dass Narda das Herz stehen blieb.
„Bardo, wir müssen-“.
„Nein.“ Seine Hand umklammerte ihren Arm wie eine Eisenfessel. „Wir gehen. Jetzt. “
Doch als er sich umdrehte, um den Weg zurück zum Tor zu suchen, nutzte Narda den Moment. Mit einer Bewegung, die sie in hundert Diebesstunden geübt hatte, ließ sie den Beutel in den Staub fallen, direkt vor die Füße der Frau.
„Schimmel auf Brotrinde“, flüsterte sie hastig, während ihr Bardos Rücken noch zugewandt war. „In warmem Wasser auflösen. Nur ein Schluck alle sechs Stunden. Mehr ist Gift.“
Die Frau starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an, doch bevor sie antworten konnte, riss Bardo Narda zurück.
„Was hast du getan?“ Seine Stimme war ein gefährliches Zischen.
„Nichts! Ich bin nur gestolpert!“
Seine Augen funkelten im Halbdunkel, aber die Zeit fehlte für weitere Fragen. Schon hörten sie Gesänge von einer sich nahenden Prozession.
„Fort von hier, sonst zwingen sie uns mit zu gehen und wir stecken uns an!“, knurrte Bardo und zog sie mit sich.
Als sie durch das Stadttor zurück auf die offene Straße flüchteten, wagte Narda nicht, sich umzusehen. Sie wusste nicht, ob die Frau das Geschenk angenommen hatte. Ob es helfen würde. Ob der Junge überleben würde.
Aber eines wusste sie sicher: Irgendwo in dieser Stadt lag jetzt ein Stück ihres Wissens frei herum. Und in dieser Welt war Wissen wie ein Funke im Stroh - es konnte Leben retten ... oder einen Scheiterhaufen entfachen.
Bardo sagte kein Wort mehr, aber sein Blick brannte sich in Nardas Rücken, als sie der Truppe vorauseilten. Sie hatte gegen die Regeln verstoßen. Und Regeln, das wusste sie, waren in ihrer Welt oft der einzige Schutz zwischen Leben und Tod.
Doch als der Wind ihr eine letzte Rauchfahne aus der Stadt entgegentrug, dachte Narda an die verzweifelten Augen der Mutter. Und für einen kurzen Moment war sie bereit, die Konsequenzen zu tragen.
Irgendwann.
Wenn sie kommen würden.
12. Heilung
Ardin versuchte erneut, aufzustehen, aber die mit Stöcken verschnürten Beine waren nicht zu gebrauchen. Seit ein paar Tagen war er wieder bei klarem Verstand. Die Heilerin verstand ihr Geschäft. Irgendwie musste er Kontakt aufnehmen und so lange er hier festlag, ohne sein Band, gab es nur eine Möglichkeit. Er rief nach Nerissa. Die brachte ihm einen Kräutersud und fragte nach seinen Wünschen.
„Hole mir bitte den Priester, ich brauche geistlichen Beistand!“, sagte er in sehr ernstem Ton.
Nerissa antwortete eindringlich: „Ihr werdet nicht sterben, Herr! Eure Beine müssen heilen und das dauert sicher noch ein paar Wochen, aber ansonsten seid ihr gesund.“
„Bitte, es ist wichtig! Ich brauche ihn unbedingt.“
„Wie ihr wollt, Herr. Hier im Dorf gibt es keine Kirche. Ich bitte jemanden, zum nächsten Marktflecken zu gehen.“
„Hab Dank!“
Der Trank machte ihn müde. Beim Einschlafen hörte er leisen Gesang von Nerissa, Worte, die ihn beruhigten. Es fühlte sich ein bisschen an, wie das Abendritual im Kloster, wenn die große Weisheit ihn für seine Arbeit belohnte.
Nerissa hörte den Schrei einer Eule, das vereinbarte Zeichen. Sie verließ das Bauernhaus und ging zum Stall. Dort wartete Engelbert auf sie. Sie umarmten und küssten sich.
„Er glaubt, du wärst tot“, sagte sie, „pass bloß auf, dass er dich nicht sieht. Er wird ungeduldig und verlangt nach einem Priester. Wenn keiner kommt, wird er das Vertrauen verlieren.“
„Es wäre aber nicht klug, ihm einen zu holen!“
„Sicher nicht“, bestätigte Nerissa, „aber ich habe eine Idee! Reite zur Truppe und hole Bardo. Er kann den Pfaffen spielen!“
„Das ist gewagt! Die haben, geheime Zeichen, mit denen sie sich ausweisen“, wand Engelbert ein.
„Bardo schafft das. Der Inquisitor hört regelmäßig meine Worte, genießt sie! Ich sorge dafür, dass er ein bisschen benommen ist, wenn Bardo kommt.“
„Gut, ich mache mich gleich auf den Weg. Aber, gönne Ardin nicht zu viel Segen! Ich werde eifersüchtig!“
Sie verabschiedeten sich mit einem Kuss. Ihr Plan war noch verschwommen, gewann aber immer mehr an Kontur. Gewagt, sehr gewagt, aber ein Erfolg gäbe den Pythagoräern eine ganz neue Perspektive.
Zwei Tage später traf Bardo ein, gekleidet in die von einem Dorfpfarrer geborgte Kutte. Als er zu dem Verletzten ans Bett trat, war dieser nur halb wach. Bardo deutete die Gesten an, die er bei Priestern schon gesehen hatte, Ardin vollzog ähnliche Bewegungen und schien zufrieden zu sein.
Er sprach: „Bruder, ich brauche deine Hilfe. Gibt es in deiner Kirche eine Wandinschrift mit den Namen der Stifter?“
„Natürlich, wie in jeder Kirche.“ Bardo war sich dessen gar nicht so sicher.
„Ich bin auf besonderer Mission und du musst genau das tun, was ich sagte! Löse die Platte mit der Inschrift von der Wand. Vertrau' mir, das ist möglich! Darunter findest du das Abbild einer Hand. Lege deine Hand auf dieses Bild. Du wirst spüren, dass etwas geschieht. Hab keine Angst, dir geschieht nichts. Du handelst im Namen der großen Weisheit!“
Bardo gab sich misstrauisch: „Was du verlangst, hört sich nach Hexerei an!“
„Schau dir meine Kutte an! Ich habe Befehlsgewalt, also folge meinem Befehl!“
Bardo gab nach: „Ich tue, was du befiehlst. Was geschieht dann?“
„Du legst die Platte zurück an ihren Platz. Es wird jemand kommen, vielleicht noch am selben Tag. Er wird dich fragen, ob etwas passiert ist. Du antwortest dann wortwörtlich 'ich habe Ardin getroffen'. Sprich es nach!“
Bardo tat wie geheißen.
Ardin fuhr fort: „Der Mann wird dich bitten, ihn zu mir zu führen. Das tust du, dann ist deine Aufgabe erfüllt und du hast der großen Weisheit treu gedient.“
„Ich mache mich auf den Weg“, versprach Bardo.
Als Ardin eingeschlafen war, besprach Bardo sich mit Nerissa. Sie hatten Zeit gewonnen, aber nicht viel: Sollte in zwei Tagen niemand von unten erscheinen und dem Inquisitor helfen, würde Ardin wohl noch misstrauischer werden, als er schon war.
„Es gibt eine andere Möglichkeit“, sagte Nerissa und beschrieb Bardo, ihren Plan, der weit über den Gewinn von etwas Zeit hinaus ging.
13. Vergangenheit und Zukunft
Es war früher Morgen, als Narda von Gewieher und Rufen aufwachte. Sie wischte sich den Schlaf aus den Augen und lauschte. Ein Reiter sprang vom Pferd und wurde von Bardo begrüßt. Sie konnte nicht alles verstehen, aber ein paar Gesprächsfetzen waren beunruhigend. Anscheinend ging es um Nerissa und das Wort „verletzt“ fiel. Jando wurde ins nächste Dorf geschickt, um etwas zu besorgen.
Bardo stellte den Neuankömmling als Engelbert vor, einen Vertrauten der Pythagoräer. Jetzt erkannte Narda ihn als jenen Fremden, mit dem sich Nerissa im Wald getroffen hatte.
„Wenn Nerissa verletzt ist, muss ich zu ihr, ich kann helfen!“, sagte sie.
Bardo erklärte: „Danke Narda, aber unserer Heilerin geht es gut. Es ist der Inquisitor, der einen Unfall hatte. Wir wollen ihn davon überzeugen, dass wir alle tot sind, damit die Verfolgung endet. Dazu muss ich ihn treffen.“
Jando kehrte nach einigen Stunden mit einem Bündel zurück. Bardo nahm es und bestieg Engelberts Pferd. Bis zu seiner Rückkehr blieb die Truppe, wo sie war.
Als wieder Ruhe eingekehrt war, wandte sich Narda an Jando.
„Was hat es mit dem Inquisitor auf sich? Es geht doch um etwas anderes als um Priester und Klöster, oder?“, fragte sie.
Der Gaukler antworte: „Ja, es geht um etwas ganz anderes, aber das ist sehr schwer zu verdauen, das ist noch nichts für Finn, denke daran!“
Was sie erfuhr, konnte sie kaum glauben: Unter der Erde sollte es große Städte geben, in denen auch Menschen lebten, aber Menschen, für die all das Wissen, was die Pythagoräer hüteten, selbstverständlich war. Die Menschheit hatte sich unter die Erde zurückgezogen, weil das Leben an der Oberfläche unmöglich geworden war. Warum das so war, wusste niemand mehr, einige Schriften erzählten von einem großen Krieg, vor dem man sich in Sicherheit bringen wollte, andere berichteten von Änderungen des Klimas, durch die man oben nicht mehr leben konnte.
Das Leben auf diesem begrenzten Raum erforderte eine strenge Organisation und die Menschen neigten zur Uneinigkeit. Statt es wieder zu Gewalt oder Fehlentscheidungen kommen zu lassen, beschlossen die Leute, dass ein Automat, streng nach Regeln der Logik, regieren sollte. Die Maschine bekam den Namen „die große Weisheit“. Das funktionierte gut: Niemand hungerte, alles war organisiert und nach ein paar Generationen war „die große Weisheit“ für die Menschen zu einer Art Gott geworden.
All das fand Narda völlig unglaublich. Sie wollte wissen, was das alles mit dem Leben auf der Erdoberfläche und den Pythagoräern zu tun hat.
Jando erklärte ihr auch dies: Als nach vielen Jahren wieder Leben auf der Oberfläche möglich war, hatte „die große Weisheit“ kleine Gruppen von Menschen dort angesiedelt. Die durften nur in primitiven Verhältnissen leben, um sicherzugehen, dass sie nicht wieder einen großen Krieg entfachten oder das Klima veränderten. Diese Kolonie auf der Oberfläche schien so etwas wie ein Versuch zu sein, ein Test, ob Menschen wieder selbstorganisiert leben können.
Von Anfang an fielen dabei manche Menschen auf, waren besonders klug - aber große Klugheit sollte es hier oben nach dem Willen der „großen Weisheit“ nicht geben. Deshalb machte man Jagd auf sie, sperrte sie in den Klöstern weg. Einige, die entkommen konnte, taten sich zusammen. Das sind wir, die Pythagoräer.
Narda fühlte eine Beklemmung: Irgendetwas fehlte in Jandos Erklärungen, aber sie wusste nicht was.
„Wirst du mir irgendwann das verraten, was du ausgelassen hast?“, fragte das Mädchen.
Jando schmunzelte: „Ja, Narda, ganz bestimmt!“
14. Aufruhr
„Ich habe eine Aufgabe für dich“, sagte Borgun.
Narda setzte sich zu ihm. Vor ihnen lag ein schmales, zerrissenes Stoffband, an dem mehrere Metallscheiben angenäht waren. Das Band war mit seltsamen Symbolen bestickt und mit Edelsteinen verziert, an zwei Seiten konnten sie eine Verdickung sehen.
„Was ist das?“, fragte Narda.
„Der Inquisitor, der uns verfolgt, hatte das bei sich. Er trägt es wohl in seinem Kloster als Stirnband und bekommt damit seine Befehle. Hier oben hat er es aber nicht angehabt. Lass uns herausfinden, wie es funktioniert.“
Narda trennte vorsichtig die Stoffhülle auf. Darunter kam ein Streifen aus seltsamem Material zum Vorschein: Es fühlte sich an wie Holz, war aber biegsam. Auf beiden Seiten des Streifens sah Narda schmale Bahnen aus Kupfer, auf denen an verschiedenen Stellen kleine fremdartige Teile saßen. Borgun gab ihr ein Augenglas, mit dem sie es vergrößert ansehen konnte. Das Mädchen erblickte so noch mehr der Partikel, die immer mindestens mit zwei der Kupferbahnen verbunden waren, zu einigen größeren Teilen führten mehrere feine Bahnen.
„Das hat was mit Elektrizität zu tun“, spekulierte sie.
Borgun nickte.
„Dort, wo es zerrissen ist, liegt nur eine Kupferleitung. Wir könnten die flicken!“
Borgun bestätigte: „Das glaube ich auch! Aber sollten wir? Wir wissen nicht genau, wofür das Ding gut ist und ob es womöglich unsere Feinde her rufen kann.“
„Mir ist nicht wohl dabei“, sagte Narda, „wozu soll es uns überhaupt nützen, auch wenn wir es reparieren können?“
Borgun lächelte. „Da hat Nerissa eine Idee. Wie du weißt, hält sie den Inquisitor bei Laune und hilft ihm, gesund zu werden. Er hat im Schlaf geredet und sie hat dabei einiges erfahren. Sie versucht, ihn auf unsere Seite zu ziehen!“
Narda traute ihren Ohren nicht! „Ist sie verrückt geworden? Der jagt mich doch, sucht seit Monaten nach mir!“
„Vertrau uns Narda! Auch Engelbert war einst unser Feind, jetzt ist er unser Freund.“
Narda bemerkte: „Aber Engelbert ist keiner von denen da unten, er ist ein Mensch aus dieser Welt, das ist was ganz anderes!“
„Das stimmt Narda, aber Ardin wäre nicht der Erste von unten, der auf unsere Seite wechselt. Es gab schon manche anderen.“
„Gehören denn welche zu den Pythagoräern?“
„Nein, denn sie sind nicht besonders schlau. Wir haben aber schon manches durch sie erfahren.“
„Wozu brauchen wir dann aber das Stirnband?“, Narda gab keine Ruhe.
„Nerissa meint, dass das Band den Mann beeinflusst, dass er so Befehle bekommt. Wenn wir verstehen, wie das passiert, können wir da eingreifen. Ob wir es ihm zurückgeben, überlegen wir später.“
„Was meinst du, Narda, wie können wir die unterbrochene Verbindung reparieren?“
„Wir können Zinn schmelzen, das verbindet sich mit Kupfer“, sagte das Mädchen, „mein Vater nutzt das in der Schmiede“.
„Genau“, bestätigte Borgun, „wir schmelzen etwas Zinn und lassen es in die Lücke fließen. Aber erst mal müssen wir dafür sorgen, dass die beiden Enden überhaupt zusammenbleiben. Hast du einen Vorschlag?“
„Wir können ein Stück Leder mit Leim dran kleben.“
Borgun stimmte zu und Narda machte sich ans Werk. Sie kochte Leim auf und half dann Borgun, die Teile zusammenzufügen.
„Während das trocknet, bereiten wir die Verbindung der Leitung vor“, sagte er und holte ein paar seiner Schätze hervor: einen dünnen Strang weichen Zinns, einen kurzen Kupferstab mit dünner Spitze und eine längere Eisenstange. Er befestigte das Kupferstück am Eisen und wickelte Lederstreifen um das andere Ende. So hatte er einen Griff. Das kupferne Ende legte er ins Feuer.
Er erklärte dem Mädchen, was genau zu tun ist. Mit einer Klinge kratzte sie die Kupferbahnen an der Unterbrechung blank, dann hielt Narda den Zinnstreifen darauf. Sie wollte das Metall mit der Spitze ihres heißen Kupfers schmelzen.
„Warte“, sagte Borgun, „ich habe etwas vergessen!“
Er holte noch etwas aus seinem Rucksack. Es sah aus wie Bernstein. „Bevor du das Zinn schmilzt, halte die Kupferspitze kurz an dieses Harz. Es schmilzt und hilft. Aber atme den Rauch nicht ein, der ist nicht gut.“
Nachdem Narda das Kupfer noch mal erhitzt hatte, tat sie wie geheißen. Der Rauch war beißend und Narda hielten die Luft an, aber das Zinn schmolz und floss wie von selbst auf die Kupferbahn des Stirnbandes, schloss die Lücke.
„Was du da gemacht hast, nennt man Löten“, erklärte Borgun. Er begutachtete die Flickstelle mit der Lupe und lobte ihr Werk. „Sehr gut! Nun nimm noch ein Lederstück und den heißen Leim und verstärke das Band damit auch auf dieser Seite.“
Narda vollendete ihr Werk.
Borgun sagte: „Das sollte einen Tag nicht angerührt werden, damit der Leim ganz abbindet. Morgen können wir ausprobieren, ob es funktioniert.“
Narda nickte, aber fühlte sich bei dem Gedanken alles andere als wohl.
Es war früher Morgen, als Engelbert angeritten kam und schrie: „Wir müssen hier weg, schnell!“.
Sie rafften ihre Sachen zusammen und schlugen sich in die Büsche. Aus der Deckung sahen sie eine Horde Männer mit Fackeln und Mistgabeln, hörten Stimmen: „Sie können nicht weit sein! Wir kriegen die Hexer!“
Bardo legte seinen Zeigefinger auf die Lippen und bedeutete den anderen, ihm zu folgen. Er führte sie im Halbdunkel tiefer in den Wald. Als sie außer Hörweite waren, berichtete Engelbert: „In der Stadt starben sie wie die Fliegen, der schwarze Tod hat fast alle genommen. Ein Kind wurde aber wieder gesund. Weil es verschont blieb, kam der Verdacht auf, die Mutter wäre eine Hexe. Sie drohten ihr Folter an, dann erzählte sie von euch, von einem Mädchen, das ihr Medizin gegeben hatte.“
Bardo sah Narda streng an.
„Es tut mir leid, aber ich konnte nicht anders!“, flüsterte das Mädchen.
„Du hast ein gutes Herz Narda“, antwortete der Meister, „aber nun werden wir noch mehr unserer Geheimnisse offenbaren müssen, um uns zu retten.“
Er kramte drei Säckchen aus seinem Rucksack hervor, schüttete den Inhalt, drei verschiedene Substanzen, eine gelb, eine weiß und die Dritte schwarz in eine Schüssel und vermischte alles. Das entstandene Pulver verteilte er vorsichtig auf zwei kleine Krüge, die Borgun geholt hatte, wälzte Schnüre in den Resten und steckte sie in die Krüge, die er dann mit Korken verschloss.
„Ich brauche deinen Mut und deine Flinkheit, Engelbert!“
Der Angesprochene streckte die Hand aus.
Bardo gab ihm die Bomben. „Wenn du sie anzündest, bleiben nur wenige Augenblicke! Du musst dann schnell sein wie der Wind! Wirf ihnen die Erste so in den Weg, dass sie ihnen Angst macht. Aber wenn sie dir folgen, schmetterst du die Zweite direkt in ihre Mitte!“
Engelbert nickte, aber Narda erschrak und fragte „wird sie das töten?“
„Wenn sie vernünftig sind, gibt es nur einen großen Knall und sie flüchten. Aber wenn sie das nicht tun, wird die zweite Bombe Schaden anrichten. Sterben wird wohl keiner, aber verletzt werden sie.“
„Es tut mir leid“, flüsterte Narda noch einmal.
Bardo fuhr fort: „Wir teilen uns auf! Borgun und Narda, ihr geht tiefer in den Wald, bleibt dort zwei Tage. Jando nimmt Finn mit, geht so unauffällig wie möglich neben dem Weg in Richtung Goselar. Ich warte auf Engelbert und reite mit ihm nach Mardenach. Dort treffen wir uns wieder. Los jetzt!“
Jando und Narda waren ein gutes Stück weiter, als ein Knall die Stille zerriss. Das Mädchen wartete ängstlich, fürchtete sich vor einem zweiten Knall, Borgun trieb sie zur Eile an: „Jetzt ist keine Zeit zum Trödeln, und zum Grübeln auch nicht!“
Sie waren schon tief zwischen den Bäumen, als Narda es hörte, das Geräusch, das sie befürchtet hatte, einen zweiten Knall aus der Ferne. Sie konnte die Tränen nicht mehr aufhalten.
„Ich will das alles nicht!“, schluchzte sie.
„Reiß dich zusammen Narda! Wir sind immer verdächtigt, werden oft verfolgt. Damit müssen wir klarkommen!“
„Was ist, wenn ich mich ihnen stelle? Sie wollen doch nur mich!“
Borgun versuchte, sie zu beruhigen: „Glaub' das bloß nicht! Sie wollen heute dich, aber morgen vielleicht Jando, vielleicht Finn. So ein Mob ist dumm wie Stroh und will nur Schaden anrichten. Der Anführer von so einem Haufen ist meistens der Unbedarfteste von allen.“
„Aber ich bin schuld! Hätte ich der Frau nicht die Medizin gegeben, wäre das alles nicht passiert.“
„Das Kind, das du gerettet hast, wird vielleicht mal vielen anderen das Leben retten. Du hast gefühlt, dass du helfen musst, und das ist gut so! Jetzt müssen wir schlafen, Narda, denn morgen brauchten wir unsere Kraft.“
„Ich habe uns geschadet, als ich dem kranken Kind half, das wollte ich nicht, aber ich würde es wieder tun!“
„Ich weiß!“, antwortete Borgun, „es gibt einen Unterschied zwischen uns und den Menschen unten im Kloster: Die tun immer, was ihnen ihr Gott sagt. Wir können wählen, müssen selbst entscheiden, was richtig ist.“
Das Mädchen weinte sich in den Schlaf.
Stunden später wachte Borgun auf. Narda hatte sich an ihn gepresst und weinte wieder. „Ich habe sie gesehen, schwer verletzt, blutend, sterbend!“
„Es war nur ein Traum, Narda! Wir wissen nicht, ob jemandem etwas geschehen ist, aber wenn, dann ist es ihre eigene Schuld. Du darfst nie vergessen, dass die uns töten wollen, dich! Sie wollen dich quälen, wollen dich leiden sehen und bei lebendigem Leid verbrennen. Das lassen wir nicht zu!“
Sie kuschelte sich an den Hünen und es gelang ihr, wieder einzuschlafen.
Borgun erwachte bei Sonnenaufgang. Narda lag nicht mehr bei ihm. Erst dachte er, sie wäre in den Büschen. Er rief sie, doch es kam keine Antwort.
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