1. Tod und Geburt
Im Schein von zwei Laternen hoben sie ein Loch im offenen Grab aus. Als Schmied war Heinrich schwere Arbeit gewohnt, er schaffte mehr als Karl, der Pfarrer. Der wurde nicht müde, zur Eile anzutreiben, und schwitzte nicht nur von der Arbeit. Was sie hier taten, durfte niemand wissen. Mathilde, die Gattin des Schmieds stand an der Seite, presste ein Bündel fest an sich. An der Pforte des Friedhofs stand Peter, der Müller und Dorfvorsteher, hielt Wache.
Der Sohn des Schmieds, Martin hätte er heißen sollen, war tot zur Welt gekommen und eine Nottaufe war nicht mehr möglich gewesen. Um ein Haar hätte auch Mathilde nicht überlebt. Das Kind in geweihter Erde zu begraben war ein Frevel. Karl hatte sich nur aus Freundschaft zu der Familie darauf eingelassen, aus einem Gefühl der Verpflichtung. Und weil die Gelegenheit so günstig war: Morgen würde hier Andrea begraben werden, eine rothaarige Frau, die mit ihrer kleinen Tochter in der Dorfkirche Zuflucht gesucht hatte. Niemand wusste, woher sie kam und warum sie überfallen worden war, aber es erschien dem Geistlichen und auch dem Dorfvorsteher am besten, sie ohne Aufsehen zu begraben. Es würde sie sicher nicht stören, dass das Kind ehrbarer Leute ihr Grab teilte.
Das Grab im Grab war tief genug. Der Pfarrer nahm das Bündel mit dem toten Kind, musste es Mathilde fast entreißen, bettete es in das Loch und vollzog seinen Ritus. Sie sprachen ein Gebet, füllten das Loch mit Erde und glätteten sie, sodass das offene Grab aussah wie zuvor. Die Eltern umarmten sich innig unter der Versicherung des Priesters, dass ihr Sohn seinen Platz im Reich des Allwissenden fände.
„Ihr wisst, was ihr versprochen habt: Ihr nehmt Narda, Andreas Tochter, als euer Kind an, versorgt sie gut und erzieht sie, macht aus ihr eine ehrbare Frau! Ihr wisst, dass sie ein ungewöhnliches Kind ist, dass sie lesen und schreiben kann.“ Peter ermahnte sie eindringlich.
Er fuhr fort: „Ich habe ihr erzählt, dass Ihr Onkel und Tante seid, aber wie lange sie das glauben wird, das weiß ich nicht. In den paar Tagen seit sie jetzt im Pfarrhaus ist, hat sie mich immer wieder erstaunt, aber sie ist erst sechs und wird euren Schutz brauchen!“
„Es wird ihr gut bei uns gehen!“, versprach der Schmied.
Der Dorfvorsteher setzte hinzu: „Ich werde auch ein Auge auf sie haben.“
*
„Magst du Narda?“ Peter nahm seinen Sohn ins Gebet. Er hatte beobachtet, wie der das Mädchen umarmt hatte. Narda war jetzt zehn und noch zu jung für die Liebe.
Merten, sein Sohn, gab es zu: „Ja, ich mag sie sehr, und wenn sie so weit ist, will ich sie zur Frau!“
„Bist du dir sicher? Manchmal frage ich mich, ob die Leute nicht recht haben, wenn die was von ‚Hexe' sagen. Denk gut nach, hat sie dich verhext?“
Merten ballte seine Fäuste „Sag so was nicht! Narda wird die Frau, die ich heiraten will. Sie ist klug und hat ein gutes Herz, ganz sicher ist sie keine Hexe!“
„Ich spreche mit dem Schmied. Wenn Narda dich auch mag, können wir was abmachen. Du musst dann aber viel Geduld haben. Wenn du nicht wartest, bis sie alt genug ist, wird Heinrich dir sämtliche Knochen brechen!“
Merten war ein kräftiger Bursche und selbst mit 14 auch noch zu jung zum Heiraten. Er wusste, dass Narda viel klüger war als er. Sie hatte ihm schon aus dem Weisheitsbuch vorgelesen und erklärt, wie das Wasserrad die Mühle antreibt. Begeistert hatte sie aufgezeichnet, wie so ein Wasserrad auch einen Schmiedehammer bewegen könnte. Er wusste, dass die Warnung ernst gemeint war, denn der Schmied war der stärkste Mann im Dorf. Merten hatte Narda schon oft vor anderen Kindern geschützt und konnte sich keine bessere Lebensaufgabe vorstellen, als sie ein Leben lang zu beschützen.
*
Narda und Merten reichten sich die Hände. „Ihr seid nun einander versprochen, wollt Mann und Frau werden, wenn die Zeit gekommen ist.“ Der Priester brach das Brot und reichte beiden ein Stück. Es war viel zu früh für eine solche Zeremonie, denn Narda war noch immer ein Kind, aber ein Kind, das schon mehr zu wissen und zu verstehen schien als jeder andere. Sie unter die Haube zu bringen, könnte schwer werden, denn die meisten jungen Männer hätten sich keine Frau ausgesucht, die klüger ist als sie selbst. Dass diese beiden sich wirklich haben wollten, war einfach ein Glücksfall.
Bevor sie auseinandergingen, flüsterte das Mädchen Merten etwas ins Ohr, etwas das nachhallen würde, wenn er sich schlafen legt, etwas, was ihm helfen würde, die Geduld zu bewahren.
2. Der Mönch
Ardin schrie aus voller Kehle: „Hilfe, ich bin hier!“
Er hatte beim Absturz eine Wurzel gegriffen und sich in eine Nische der Felswand gerettet. Aber er war verletzt. Seine Beine schmerzten. Neben dem Vorsprung ging es viele Meter weiter abwärts. Über sich war ein Überhang. Die Wurzel darin war sein einziger Halt, aber dieser Erker verhinderte auch, dass man ihn sehen oder hören konnte. Der reißende Fluss am Grund der Schlucht übertönte sowieso alles.
Mit der freien Hand versuchte er, das Stirnband aus der versteckten Tasche seiner Kutte zu holen. Mit ihm würde er Hilfe heranrufen können, Hilfe, die ganz andere Möglichkeiten hatte als die Stricke und Leitern dieser Welt. Göttliche Hilfe! Mit der linken Hand konnte er die Tasche nicht erreichen und er zögerte, an der Wurzel umzugreifen. Auf die Seite drehen musste er sich auch. Schließlich wagte er es, unter unerträglichen Schmerzen. Erdbrocken lösten sich und fielen auf ihn. Endlich fühlten seine Fingerspitzen das begehrte Objekt, nein, zwei Teile. Sein Band war zerrissen und damit, die einzige Möglichkeit, seine Welt zu erreichen.
Ardin rekapitulierte, was ihn hierher geführt hatte: Schuld war der verdammte Ehrgeiz! Es war sein Traum gewesen, an der Besiedelung von Celtis drei teilzunehmen, nicht den Rest seines Lebens als Gebetssachbearbeiter zu verschwenden. Die Expedition an die Oberfläche und die Suche nach der rothaarigen Hexe schien dafür eine gute Bewährungsprobe zu sein.
Dabei hatte er doch ein gutes Leben gehabt, ein perfekt Geordnetes, geprägt vom ständigen Austausch mit der großen Weisheit, von guter Nahrung, sinnvollen Aufgaben und dem allabendlichen Gefühl der Einheit mit der Gottheit. Nun lag er hier! Über kurz oder lang würde ihn die Kraft verlassen, er würde ohnmächtig werden und abstürzen. Ihm würde nicht mal mehr das Glück bleiben, von „ihm“ den letzten Segen zu bekommen.
Monate zuvor:
„Ich könnte dich erschlagen“, Ardin sprach es mit einem Lächeln aus und Tony schien zu wissen, wie es gemeint war. Er legte die Würfel ins Regal mit den Spielen. „Schon gut, nächstes Mal Schach, dann gewinnst du wieder.“
„Nächste Woche wieder bei mir, da mache ich dich fertig!“, sagte Ardin. Die beiden Nachbarn wechselten sich als Gastgeber ab. Ardins Zelle war aber viel komfortabler als Tonys: Hier war alles nur zweckmäßig: Die Nasszone, ein Bett, ein Stuhl, ein Tisch, das Auge in der Wand. Tony überließ seinem Gast immer den Stuhl und setzte sich auf die Liege.
Ardins Zelle gegenüber war fast doppelt so groß. Dort musste man nicht auf der Pritsche sitzen, sondern hatte sogar drei Sessel.
„Es wird das letzte Mal sein, nächste Woche!“ Tony erinnerte seinen Gast an eine unangenehme Tatsache. Ardin hatte sich drei Mal um Aufnahme in das Siedlerprogramm beworben und war jedes Mal abgelehnt worden. Sein Nachbar hatte gar nichts getan und dennoch letzte Woche die Einladung bekommen. Am Freitag nächste Woche sollte es losgehen. „Dann doch besser Backgammon, du sollst als Sieger aufbrechen.“
Man verabschiedete sich mit einer Umarmung und Tony verließ die Kammer. Die Tür seiner Eigenen öffnete sich von allein, dafür sorgte sein Stirnband. Als die Tür wieder zu war, schlug Ardin mit der Faust auf seinen Tisch. Das Auge flammte auf und er hörte die Frage „Hast Du Wünsche?“
„Danke, alles ist gut“, antwortete er.
Er dachte aber, dass gar nichts gut ist! Fachleute wurden für die Besiedelung von Celtis drei gebraucht, die Besten der Besten. Sein Nachbar war ein netter Kerl und genau wie Ardin ein Priester, einer der das Gebet beherrschte und die Antworten verstand, aber er war nicht herausragend. Ardin dagegen hatte besondere Fähigkeiten, stand eine Stufe höher. Ihm hatte man schon gesagt, dass er es zum Bischof bringen könnte! Und genau das war es, was ihn in das Siedlerprogramm zog: In einer neuen Welt wäre der Weg auf der Karriereleiter viel kürzer.
Diese Gedanken nützten ihm nichts. Er zog sich aus, legte sich auf sein Bett und sprach sein Nachtgebet. Das Auge befriedigte ihn und brachte ihn zur Ruhe.
Als er erwachte, war seine Laune besser. Das war der Segen des Allwissenden. Als Priester wusste er, wie das funktionierte, konnte es bis zu einem gewissen Grad beeinflussen, aber entziehen konnte er sich dem Einfluss nicht. Er duschte im Nassbereich, ließ sich von der Automatik trocken föhnen und zog seine Arbeitskutte an. Dann verließ er die Kammer, nicht ohne ein paar Dankesworte an die große Weisheit zu richten.
Das Kloster war eine unterirdische Stadt und glich einem Organismus, die Menschen hier waren die Zellen dieses Körpers, jeder mit seiner Aufgabe und Funktion. Der Bau ragte mindestens 14 Geschosse in die Tiefe, einige sagten, es gäbe noch mehr, und in seinem gab es 60 Zellen. Ardin ging zum nächsten Lift und fuhr in die 10. Etage. Dort war sein Speisesaal, in dem er sich in die Schlange einreihte. Er nickte dem Bruder zu, der ihm ein Tablett mit seinem Frühstück über den Tresen schob. Die Nahrung war genau auf seine Bedürfnisse abgestimmt. Der Geschmack variierte dank wechselnder Aromastoffe, aber im Grund war es immer der gleiche Mix aus Nährstoffen, so optimiert, dass jeder Mönch, ja überhaupt jeder Mensch, gutes und gesundes Essen bekommen konnte. Er setzte sich an einen Tisch und löffelte den Brei. Er war ein bisschen stolz darauf, dass er die Idee mit den wechselnden Aromen gehabt hatte. Er konnte es in den Gesichtern der anderen sehen, dass sie darüber auch erfreut waren.
Nachdem er das Ganze mit seinem Stimmungstrank heruntergespült hatte, stieg er wieder in den Lift und ließ sich in den dritten Stock bringen, wo sein Arbeitsplatz auf ihn wartete. Ein Saal mit 30 Gebetsplätzen, jeder mit einem kleinen Tisch, einem bequemen Sitz, einem eigenen Auge, einer Gebetshaube und einem Handset. An den meisten Plätzen wurde schon gearbeitet und Stille war hier strengste Regel. Er setze sich an seinen Tisch, setzte die Gebetshaube auf, die sich an sein Stirnband koppelte, legte die Hände auf das Handset und ließ seine Finger die Eröffnungssequenz tasten.
Ardins Finger verschmolzen gewissermaßen mit dem Handset. Tony hatte mal gesagt, es fühle sich an, wie die Brüste einer Frau. Das konnte Ardin nicht beurteilen. Zwar wusste er dank eines alten Buches, dass sich früher die Menschen berührt hatten, um zu einem Lustgefühl zu kommen und Kinder zu zeugen, doch seit der Herrschaft des Allwissenden war das kein Thema mehr: Er sorgte regelmäßig für perfekte sexuelle Befriedigung. Dabei wurde der Samen weniger Auserwählter gesammelt, damit besondere Frauen Kinder gebären konnten. Vielleicht gab es in irgendwelchen Dörfern an der Oberfläche noch Menschen, die sich persönlich paarten, aber unter kultivierten Menschen sprach man noch nicht mal davon.
Eine Welle von Gefühlen vertrieb die unkeuschen Gedanken. Die Gottheit hatte Verbindung mit ihm aufgenommen. Dank der Haube konnte er die Stimme des Herrn direkt in seinem Kopf wahrnehmen, die Tastkörper machten es möglich, dass der Priester seine Gebete schneller übermitteln konnte als durch Sprechen. Es hatte zwei Jahre gedauert, bis er als Priester das Laufen gelernt hatte und weitere drei bis zur Meisterschaft.
Im Auge erschien die erste Anforderung des Tages: In der Sojaverarbeitung bei Brunswiek war eine Maschine ausgefallen. Die Wartungsmannschaft war zwar schon an der Arbeit, aber würde mindestens einen Tag brauchen. Ardin formulierte das Gebet und ließ es in die Tastkörper fließen. Die Allwissenheit antwortete, dass sie verstanden hatte und die Produktion in Salzlingen steigern und eine Pipeline nach Brunswiek sofort freigeben werde. Es würde keinen Nahrungsengpass geben. Ardin tastete das Dankgebet.
Die meisten folgenden Aufgaben waren für ihn reine Routine, die er im Schlaf hätte formulieren können. Erst am Nachmittag erschien noch mal etwas Ungewöhnliches: Es sollte eine Stickstoffleitung nach Hanver gesucht und eingeschaltet werden. Ardin stellte die Frage, die jeder gute Priester stellen muss, bevor er sein Gebet formuliert: Warum? Die Antwort hörte er sofort: Die Feuerlöscheinrichtungen dort sollten sich automatisch versorgen können.
Ein Bild im Auge zeigte an, dass die Schicht vorbei war. Ardin gab sein Schlussgebet ab und konnte nach der Bestätigung die Haube weglegen. Es war normal, dass sein Kopf nun etwas schwirrte und die Hände sich erst wieder an richtige Bewegungen anstelle der kleinen Tastungen gewöhnen mussten.
Im Speisesaal warteten schon sein Stärkungstrank und sein Abendessen auf ihn. Trotz des erfolgreichen Gebets schien die Portion etwas kleiner zu sein, als sonst.
3. Die Flucht
„Wo bleibt mein Essen?“ Der Stiefvater brüllte heraus, was ihm wichtig war. Narda stieß das Tor der Schmiede auf und beeilte sich, die Laune des Mannes nicht noch zu verschlechtern, den sie Vater nennen musste. Wortlos hielt sie ihm die Schüssel hin. Heinrich ließ den Hammer fallen, nahm ihr die Schüssel ab und zog einen Löffel aus seiner Kluft. Er war ein Kerl, vor dem nicht nur ein elfjähriges Mädchen Angst hatte. Er maß fast sieben Fuß, konnte volle Fässer in die Höhe stemmen und weckte gern den Eindruck, er könne die Hufeisen auch mit bloßen Händen formen.
Die Luft in der Schmiede war heiß und stickig, aber wenn sie es gewagt hätte zu husten, hätte das nur wieder eine Lektion von Heinrich gegeben. Narda wollte ihm schnell wieder aus dem Weg gehen, aber sie hatte auch einen Plan. „Darf ich das haben?“, fragte sie und griff nach einem Stück Metall. Der Schmied nickte kauend und sie rannte fast nach draußen.
Die Schmiede lag direkt neben der Hütte, die sie mit den Stiefeltern und ein paar Hühnern bewohnte. Bald würde der Platz knapp werden, denn die Pflegemutter war hoch schwanger. Die Familie genoss einiges Ansehen im Dorf, denn jeder brauchte mal die kräftigen Hände des Schmieds. Nardas eigenes Ansehen in der kleinen Behausung war sehr viel geringer. Das Mädchen schlich sich hinter die Hütte, kniete sich hin und zog ihre Schätze aus einer Nische: Ein anderes Metallstück hatte sie sich schon vor ein paar Tagen besorgt und einen kleinen Krug mit Essig. Sie nahm die Kette ab, die ihre Mutter ihr hinterlassen hatte, und wickelte ihr Ende um das Eisenstück. Dann zog sie den toten Frosch, den sie gefunden hatte, aus ihrer Schürzentasche und wickelte das andere Ende der Kette um ein Bein des Frosches. Sie tauchte den Eisenstab in den Essig, hielt das Kupferstück an den Bauch des Frosches und tauchte dann auch das Kupfer in die Flüssigkeit. Das Bein des Tiers zuckte. Sie hatte alles so gemacht, wie es in einem alten Buch gezeichnet war und es passierte auch das, was dort stand. Trotzdem erschrak das Mädchen. Es war nicht das erste Mal, dass ihre Bücher die Wahrheit sagten.
Sie konnte den Frosch nicht wieder zum Leben erwecken, aber sie konnte es so aussehen lassen. Ihre Eltern hatten nicht viel hinterlassen, außer der Kette nur ein paar alte Bücher. Ihre Mutter hatte ihr das Lesen beigebracht, aber Narda verstand noch nicht alles, was in den Bänden stand. Sie war nicht mal sicher, ob ihre Mutter alles verstanden hatte, denn auch die hatte diese Bücher von ihren Eltern geerbt. Die letzten Worte, die Narda von ihr gehört hatte, hatte sie nie vergessen: „Hüte diesen Schatz und lerne aus ihm, er wird dein Leben bestimmen!“
Sie nahm alles wieder sorgfältig auseinander, legte sich die Kette wieder an und begrub den Frosch in einem Erdloch. Die Zutaten des Versuchs verstaute sie in der Nische.
„Hol Wasser!“ Ihre Stiefmutter hielt ihr einen Kübel hin. Sie musste schon eine Weile dagestanden haben und hatte vielleicht beobachtet, was sie getan hatte. Narda eilte zur Pumpe auf dem Dorfplatz.
Das Mädchen wusste, dass es den Stiefeltern dank schuldete. Wenn sie sich geweigert hätten, das Mädchen aufzunehmen, wäre sie im Waisenhaus gelandet oder womöglich in einer der Diebesbanden, von denen man aus der Stadt hörte. Stattdessen hatte sie ein Zuhause, bekam genug zu essen und wurde nicht zu oft gezüchtigt.
Nach einer Viertelstunde Wegs stellte sie den Eimer unter die Pumpe und zog an dem knarrenden Schwengel.
„Sei gegrüßt Mädchen!“ Sie war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie den Gaukler erst bemerkte, als er sie ansprach. Der junge Mann trug eine Hose mit Streifen, ein buntes Wams und eine seltsame Mütze. Seinen Esel führte er an einem Strick. Instinktiv hielt Narda gehörigen Abstand, antwortete aber nach etwas Zögern: „Seid gegrüßt, Fremder!“
„Wo finde ich denn den Dorfvorsteher?“
„Das ist der Müller, da drüben bei der Wassermühle.“
„Danke mein Kind! Ich bin Jando der Wundersame, komm doch zur Aufführung heute Abend!“
„Mal sehen“, murmelte Narda und hob den gefüllten Kübel hoch.
„Lass mich helfen!“, sagte Jando und nahm ihr den Eimer aus der Hand. Sie fühlte sich nicht ganz wohl dabei, aber der Mann nahm ihr die Arbeit ab und es wäre unhöflich gewesen, das abzulehnen. Als sie an der Mühle waren, sagte sie aber „Danke, Du musst hier zum Müller. Ich schaffe den Rest allein.“
„Danke Dir“, sagte der Gaukler und stellte den Eimer ab. „Wie heißt Du?“
„Ich bin Narda, die Tochter des Schmieds.“ Das war zwar nicht ganz korrekt, versprach aber eine gewisse Sicherheit.
„Gehab dich wohl Narda!“
„Wo bleibst Du denn?“ ihre Stiefmutter Mathilde begrüßte sie in ihrer herzlichen Art. „Mach das Feuer an und scheuere den Boden!“
Die Zehnjährige machte sich schnellstens an die aufgetragenen Arbeiten. Ihre Stiefeltern waren nicht bösartig oder gewalttätig; wenn sie ihre Arbeit gut erledigte, taten sie ihr nichts.
Am Nachmittag zog der Gaukler mit einer Schelle durchs Dorf, bimmelte und rief immer wieder „Heute Abend große Vorstellung auf dem Dorfplatz! Kommt alle, seht und staunt.“ Offenbar war er mit dem Müller einig geworden.
Fast das ganze Dorf versammelte sich auf dem Anger, um die Darbietung zu sehen. Der Künstler schlug Purzelbäume und das Rad, er verstand sich aufs Jonglieren, es schien so, als würden die Keulen in der Luft schweben. Dann ließ er Münzen verschwinden und zauberte sie an anderen Orten wieder herbei. Alle lachten und applaudierten und als er schließlich mit der seltsamen Mütze herum ging, ließ sich niemand lumpen. Das Gejohle war bis zur Schmiede zu hören gewesen. Narda war zu Hause geblieben, vertieft in eines der Bücher.
Als sie am nächsten Tag Wasser holte, stand Jando wieder an der Pumpe. „Was haben wir denn da?“ Er verbeugte sich theatralisch und zog mit schnellem Griff eine Münze hinter Nardas Ohr hervor. Das Mädchen lachte verlegen. Sie war noch immer vorsichtig, klatschte aber. Der Künstler sagte, „Leb wohl, kleine Narda“ und ging mit seinem Esel davon.
Das Mädchen hörte Schreie und sah die Hebamme, die Frau des Müllers, zur Hütte herüberlaufen. Sie beeilte sich, so gut das mit dem Eimer in der Hand möglich war.
Als Narda die Hütte betrat, hockte ihre Pflegemutter auf zwei Stühlen. Sie schrie wie am Spieß und die Müllersfrau schien etwas hilflos zu sein. „Zu enges Becken!“ fluchte sie und holte die Taufspritze aus ihrem Beutel.
Das Mädchen schob das Geschirr vom Tisch und übernahm wie selbstverständlich das Kommando. „Schnell, hier auf den Tisch, die Hüften an der Tischkante, die Beine runter!“
Die Hebamme setzte zu einer Ohrfeige für Narda an, aber fasste sich. Das Mädchen hatte recht, dies konnte Mutter und Kind retten! Gemeinsam halfen sie der Frau auf den Tisch. Narda legte ihre Hand auf die Stirn der Mutter und flüsterte ihr etwas zu, was die zu beruhigen schien, dann ging sie der Hebamme unaufgefordert zur Hand, drückte dagegen, als das Köpfchen des Babys austrat, so, als hätte sie es gelernt.
Die Geburt war schwer, aber das Kind, ein Junge, hatte überlebt. Auch die Mutter war zwar schwach, aber am Leben, ein glücklicher Ausgang! Die Hebamme umarmte Narda. „Das hast du gut gemacht, Mädchen!“
In den nächsten Tagen hatte Narda viel zu tun. Die Mutter war noch zu schwach und so blieb es an dem Mädchen hängen, Essen zu kochen und die Wäsche zu waschen. Heinrich und seine Frau waren überglücklich, nun einen Sohn zu haben. Als er getauft wurde, war die Mutter wieder bei Kräften und die ganze Dorfgemeinschaft kam dazu in die Kirche.
Das Mädchen schnappte Fetzen eines Gesprächs zwischen dem Pfarrer und Heinrich auf: „Wir haben nicht viel Zeit!“ verstand sie und mehrmals fiel ihr Name.
*
Als sie ihrem Stiefvater das Essen bringen wollte, brummte der „warte draußen!“. Sie tat wie geheißen, aber legte ihr Ohr an die Tür. Der Schmied hatte Besuch. Sie hörte die Stimme des Müllers und die Worte waren nicht freundlich: „Du kennst das Gesetz! Nur ein Kind darfst Du behalten und Du hast jetzt zwei! Wenn ihr den Jungen behalten wollt, muss Narda weg!“
„Was heißt ‚weg'? Das Mädchen gehört zu meiner Familie!“
„Das Kloster nimmt sie wohl auf, das wäre jedenfalls das Beste. Sie muss froh sein, wenn der Fürst sie nicht haben will!“
„Sie ist erst zehn!“
„Das hat unsern Landesherrn noch nie gestört. Wie ich schon sagte, das Kloster ist das Richtige. Da muss sie zwar hart arbeiten, aber da kann sie auch viel lernen. Es wird ihr gefallen!“
„Verflucht, nein, sie gehört zu uns!“, sagte Heinrich.
Peter antwortete: „Ja, das macht alles kaputt. Nur ein paar Jahre, dann hätte Merten sie heiraten können und alles wäre gut! Nichts würde ich mir mehr wünschen.“
„Genau, sie ist deinem Sohn versprochen und sie mag ihn auch!“ Der Schmied suchte verzweifelt nach einem Ausweg.
„Du kannst dich nicht wehren, sonst wirst nicht nur Du bestraft, sondern wir alle. Dann verlierst Du beide Kinder! Morgen kommt eine Nonne und holt das Mädchen ab. Nimm es, wie es ist!“
Narda zitterte, war aber geistesgegenwärtig genug, von der Tür weg zu springen, bevor der Dorfvorsteher sie aufstieß. Sie hörte ihren Vater laut fluchen, hörte, wie er mit dem Hammer auf etwas einschlug, das zerbrach. Seltsam, zum ersten Mal überhaupt sah sie ihn nicht als Stiefvater.
„Stell die Schüssel ab und komm zu mir“, sagte der Schmied.
Sie tat es, weinend.
„Du hast alles gehört?“, fragte er.
Narda nickte langsam. Dann fragte sie„Was heißt das Kloster?“
„Da leben viele Mädchen und Frauen zusammen, sie beten und arbeiten.“
Narda fragte: „Und lernen? Das hat der Müller gesagt?“
„Ja, einige Nonnen schreiben die heiligen Schriften ab, andere lernen es, Krankheiten zu heilen.“ Heinrichs Worte hörten sich nicht nach Überzeugung an.
„Aber irgendwas ist doch schlimm daran?“
„Man darf nicht mehr hinaus. Wenn Du hierbleiben könntest, würdest Du in ein paar Jahren Merten heiraten und mit ihm die Mühle übernehmen. Aber wenn Du im Kloster bist, sehen wir dich wohl nie wieder.“
Das Mädchen nickte traurig. „Ein Gefängnis also. Und was ist das mit dem Fürsten?“
Der Schmied flüsterte, obwohl niemand sonst da war: „Es heißt, der Fürst hält sich einige junge Frauen als Sklavinnen. Er tut ihnen Gewalt an und wirft sie dann weg wie Abfall. Der Müller meint, dass er auch Mädchen haben will. Glaub mir, da ist das Kloster besser!“
Er ließ das Essen stehen und ging mit Narda zurück in die Hütte. Die Stiefmutter gab ihr, nachdem der Schmied berichtet hatte, einen besonders schönen Apfel und das Mädchen sah Tränen in ihren Augen. Sie redeten noch lange miteinander, sprachen über Erinnerungen, über ihre wirkliche Mutter, es war ein bisschen wie bei einer Beerdigung.
„Ich packe meine Sachen“, sagte Narda schließlich und meinte damit vor allem ihre Bücher. Sie hatte einen Plan im Kopf und war entschlossen, ihn auszuführen. Als endlich alle anderen schliefen zog sie sich wieder an, nahm ihr Bündel über die Schulter und schlich sich aus dem Haus.
Sie wollte nicht in ein Gefängnis gehen und schon gar nicht zur Sklavin gemacht werden. Sie wusste aus ihren Büchern, was der Vater nicht auszusprechen gewagt hatte. Ihr Plan hatte allerdings gewaltige Lücken: Sie kannte eine alte Fischerhütte am See und war sicher, sie im Mondlicht zu finden, aber sie hatte keine wirkliche Vorstellung davon, wie es dann weitergehen sollte.
Es war weit schwieriger, auf dem Weg zu bleiben, als sie sich das vorgestellt hatte. Sie sah nur Schemen, dafür hörte sie umso mehr. Auch wenn es hier keine Bären oder Wölfe gab, Heulen, Schreien und Jaulen machten ihr gehörige Angst. Als sie endlich den See roch und dann die Hütte fand, fiel ihr ein Stein vom Herzen. Die Behausung war ziemlich verfallen aber immerhin ein Dach über dem Kopf. Hier würde sie schlafen und am nächsten Tag sehen, wie sie weiterkäme.
Sie zog die Tür auf und trat ein. Drinnen war es stockfinster, aber sie spürte, dass sie nicht allein war. Eine Kerze flammte auf und Narda sah dahinter das schmunzelnde Gesicht des Gauklers: „Guten Abend kleine Narda!“
Ihre Muskeln spannten sich zur schnellen Flucht.
„Keine Angst, ich tue Dir nichts!“
„Wieso bist Du hier?“, fragte das Mädchen.
„Ich habe auf Dich gewartet.“
„Warum?“ Narda blieb fluchtbereit.
„Ich glaube, Du wärst im Kloster falsch. Ich kann Dir etwas Besseres bieten.“
„Sklavin des Fürsten wohl? Nein danke!“
„Nein, es gibt noch eine andere Möglichkeit.“ Jando wirkte entspannt.
„Und was wäre die?“
„Du kannst mit mir mitgehen.“
„Und wohin?“ Gern wollte Narda dem Spaßmacher glauben.
„Eure Nachbarn haben richtig geschwärmt, dass Du schlau bist, lesen kannst, manchmal ein bisschen zu schlau für unser Land.“
„Wohin?“ Ihre Muskeln waren immer noch auf Flucht vorbereitet, aber Jando machte keine Anstalten aufzustehen oder sie zu bedrohen.
„Es gibt einen Ort für Menschen wie Dich!“
„Und der wäre?“
„Eine geheime Schule!“
„Was?“ Narda erinnerte sich an etwas aus einem ihrer Bücher.
„Ja, es gibt noch mehr kluge Kinder und wir brauchen nicht nur Schmiede und Müller, Nonnen und Mönche, wir brauchen auch Menschen, die mehr verstehen als die meisten.“
„Und Du glaubst, ich bin so ein Mensch?“
„Ja, das bist Du! Deine Mutter war auch schon besonders und eine von uns. Du hast ihre Bücher, nicht wahr?“
„Wer ist ‚uns'?“
„Wir nennen uns die Pythagoräer. Und wir sind die Lehrer der geheimen Schule.“
„Was lernt man da?“
„Die Welt zu begreifen. Du verstehst noch nicht alle Bücher, die deine Mutter dir anvertraut hat, aber wir lehren dich, wirklich durchzublicken!“
„Wieso weißt Du von den Büchern?“
„Ich bin nicht der erste Besucher hier, wir haben dich lange beobachtet! Wir wissen auch von dem Frosch!“
Narda fasste nicht wirklich Vertrauen, aber das Angebot war verlockend. „Wenn ich auf diese Schule gehe, kann ich sie auch wieder verlassen? Oder ist das nur eine andere Art Kloster?“
„Die Schule ist geheim. Wenn Du sie verlassen willst, kannst Du das, aber Du musst dann bei deinem Leben schwören, die Geheimnisse nie zu verraten.“
„Warum?“
„Der Fürst will nicht, dass die Menschen viel verstehen, und die Klöster wollen es auch nicht. Beide würden uns bekämpfen und vernichten, wenn sie uns finden könnten!“
„Wie kommen wir zu der Schule?“
„Wir haben einige Tagesmärsche vor uns.“
Narda kam endlich näher und setzte sich an den Tisch. Der Gaukler malte mit dem Finger drei Quadrate in den Staub die, ein Dreieck umschlossen. Das Gesicht des Mädchens entspannte sich, denn sie kannte dieses Bild aus einem der Bücher. „Ich komme mit!“
Der Mann legte eine Decke auf die Sitzbank. „Leg dich jetzt schlafen, wir haben morgen einen weiten Weg zu gehen.“
Er selbst löschte die Kerze und legte sich auf eine andere Decke auf dem Boden.
4. Der Auftrag
Außeneinsatz! Ardin hatte schon manch solche Aktion erfolgreich durchgeführt, er mochte die Herausforderung. Das war ein Grund, aus dem er sich für die Kolonisierung von Celtis drei beworben hatte. Vielleicht war dieser Einsatz die Gelegenheit, endlich angenommen zu werden. Sorgfältig hatte er sich vorbereitet, hatte den Bericht der ersten Suche nicht nur angehört, sondern richtig auf sich wirken lassen, nacherlebt, was Bruder Thomas erreicht hatte:
Thomas erklärte seinem Helfer: „Wir suchen eine rothaarige Hexe. Sie hat eine Tochter, sechs Jahre alt. Eins ist wichtig: Es darf keine Unruhe geben, wir wollen nicht, dass die Leute auf eigene Faust Scheiterhaufen bauen! Wir brauchen sie lebend! Sie hat etwas gestohlen und wir wissen nicht, ob sie es bei sich trägt oder irgendwo versteckt hat, aber wir wollen es auf jeden Fall zurück. In Goselar hätte man sie fast erwischt und sie kann noch nicht weit gekommen sein.“
Eine Stunde später ritten sie durch das Stadttor von Goselar. Die Wache winkte sie nach einem Blick auf das Amtszeichen durch. Der Pfarrer empfing sie freundlich. „Ja, ich habe von ihr gehört. Sie hat beim Weber Saalbach um Obdach und Essen gebeten und der hat sie ein paar Tage aufgenommen.“
Er beschrieb ihnen den Weg. Sie dankten und verabschiedeten sich mit dem Gruß der Geistlichkeit. Eine Stunde später erreichten sie Saalbachs Haus. Der Weber, ein hochgewachsener Mittdreißiger mit schwarzem Haar, zollte ihnen den gebührenden Respekt, verbeugte sich. „Wie kann ich den Herren zu Diensten sein?“
„Wir suchen eine rothaarige Frau und haben gehört, dass sie hier war.“
„Ja, hier war eine. Sie hat mir auf dem Hof geholfen. Irgendwie konnte sie alles. Über ihre Tochter habe ich gestaunt: Die las uns aus dem heiligen Buch vor, rechnete aus, was mir der Müller schuldet. Ein kleines Mädchen!“
„Aber sie ist dann weitergezogen?“
„Ja, leider! Ich hätte sie gern als Magd genommen, aber sie hatte vor irgendwas Angst und wollte nicht bleiben. Ich gab ihr einen Mantel von meiner verstorbenen Frau, ein paar Kupferstücke und Proviant, dann brachen sie auf.“
„Hat sie gesagt, wohin sie wollte?“
„Nein. Ich fragte sie, aber bekam keine Antwort.“
Der erfahrene Inquisitor erkannte die Lüge und hakte nach: „Du weißt, was dir blüht, wenn du nicht die Wahrheit sagst! Müssen wir für eine richtige Antwort den Henker bemühen?“
„Nein, entschuldigt! Es ist nur so, dass ich gar nicht weiß, ob sie wirklich in die Richtung wollten. Das Mädchen, sagte, dass sie dem Nordstern folgen müssen.“
Das klang glaubhaft. „Wenn du uns belogen hast, warst du die längste Zeit ein freier Mann! Hast du das verstanden?“
„Ja, ich sage die Wahrheit, mehr weiß ich wirklich nicht!“
Die beiden Männer bestiegen die Pferde und ritten zum nördlichen Stadttor. Der Wächter, ein dicker junger Mann, konnte sich an eine auffällige Frau mit Kind erinnern.
„Wo wollten sie hin?“
„Ich habe sie wie üblich gefragt mein Herr, aber sie hat nichts Genaues geantwortet. Sie gingen dann die Straße weiter.“
„Ist dir sonst nichts aufgefallen?“
„Das Mädchen hat etwas gesungen. Ich weiß nicht mehr, was es war, aber es machte mich fröhlich.“
„Wächter sollten wach sein und sich nicht von einem singenden Kind ablenken lassen! Geh zur Seite!“
Der Dicke tat wie ihm geheißen. Die Männer gaben ihren Pferden die Sporen. Sie ignorierten die gemurmelten Beschimpfungen hinter sich.
Drei Tage Vorsprung auf einem Weg in Richtung Norden.
*
„Was hat er getan, Nachrichter?“
Der Henker erschrak, als der Inquisitor ihn ansprach. Er war gerade dabei, die Leiche vom Baum herabzulassen, um sie wie üblich zu verwerten.
„Er war ein Räuber, Herr. Mit seinen Kumpanen hat er eine Frau totgeschlagen. Die anderen beiden sind entkommen, aber der hier hat gebüßt.“
„Was ist mit der Frau?“
„Sie schaffte es noch in die Kirche, dort ist sie gestorben und wir haben sie in allen Ehren begraben.“
Der Inquisitor ließ den Henker mit der Leiche des Räubers allein. Er wusste, dass es üblich war, einige Teile von Hingerichteten zu verwerten. Diese Praktiken waren im Grunde heidnisch, aber wurden allgemein toleriert.
Die beiden Männer folgten dem Weg ins Dorf und erreichten die kleine Kirche. Der Inquisitor betrat das Gemäuer allein, sein Begleiter hielt die Pferde. Der Pfarrer kniete vor dem Altar, vertieft in ein Gebet. Dies amüsierte Thomas: Wenn er zum Herrn betete, erhielt er Antworten über sein Stirnband. Er musste nicht glauben, er wusste. Er baute sich neben dem Priester auf und machte das Zeichen des Glaubens. Der erwiderte das Zeichen und stand auf.
„Was kann ich für euch tun, Bruder?“
„Ich habe gehört, dass hier eine rothaarige Frau war, vielleicht eine Hexe.“
„Ja, eine Frau war hier, die war aber schwer verletzt und ist hier gestorben. Ich glaube nicht, dass sie eine Hexe war, deshalb gab ich ihr den letzten Segen und begrub sie, mehr konnten wir nicht mehr für sie tun.“
„War sie allein?“
„Ja. Sie war vor dem Dorf überfallen worden. Sie hat sich wohl gewehrt und einer der Räuber ist selbst verletzt worden. Um den hat sich gestern der Henker gekümmert. Die beiden anderen konnten entkommen.“
„War nicht noch ein Kind dabei?“
„Nein, sie war allein und hatte nichts dabei, außer dem Kleid am Leibe.“
„Hat denn keiner die Räuber verfolgt?“
„Die waren längst weg. Wir haben doch erst davon erfahren, als die Frau sich hier in die Kirche schleppte. Nur der, dem sie die Beine gebrochen hatte, der wartete brav auf das Gericht!“
Der Inquisitor bedankte sich. Die Spur war verloren. In den Händen der Straßenräuber würde das Kind auf Nimmerwiedersehen verschwinden, wenn es nicht längst tot und irgendwo verscharrt war.
Sie sahen sich das Grab an und ritten dann zurück zum Treffpunkt. Thomas stieg ab und reichte seinem Helfer die Zügel, dankte ihm und schickte ihn fort. Er wartete, bis die Hufklänge verhallt waren, dann holte er sein Stirnband hervor und aktivierte es.
Ardin kehrte aus dieser fremden Erinnerung zurück ins hier und jetzt. Thomas hatte die Spur vor fünf Jahren verloren, aber jetzt gab es eine Neue: Da war ein Kind aufgefallen. Ob es die damals verschwundene Tochter war, das sollte er prüfen und sie in dem Fall ins Kloster mitbringen. Er würde sich nicht abschütteln lassen wie sein Vorgänger.
Er betrat die Schleusenkammer, legte seine funktionale Kleidung ab, zog dann die bereit liegenden Sachen an, die zur Außenwelt passten, grob gewebte Wäsche und eine abgetragene Mönchskutte darüber. Sein Stirnband, die ständige Verbindung mit dem Herrn, nahm er unter einem stillen Gebet ab und verstaute es in einer geschickt versteckten Innentasche. Zuletzt legte er die Amtskette um, das Zeichen des Inquisitors, das jeden der es sah verpflichtete, ihm zu Diensten zu sein.
Der starke Geruch von Ozon zeigte ihm an, dass die Oberfläche nah war. Er bedeckte seine Augen, um nicht gleich geblendet zu werden. Die Wand vor ihm glitt zur Seite und er trat hinaus. Der Zylinder, den er verlassen hatte, schloss sich und versank im Boden. An seiner Stelle war wieder der gleiche Waldboden wie überall sonst. Er nahm die Hände herunter, die Augen mussten sich an die Helligkeit gewöhnen. Die Luft hier roch völlig anders als die gewohnte sterile Luft im Kloster. Ardin wusste um die darin verborgenen Gefahren, war gegen die meisten davon geimpft, doch ein Restrisiko blieb immer.
Er musste nicht lange warten, das Hufgetrappel war schon zu hören. Ein schwarzhaariger junger Mann stieg vom Pferd und stellte sich vor: „Seid gegrüßt Bruder! Ich bin Engelbert und ganz zu euren Diensten.“ Ardin brauchte einen Führer in dieser fremden Welt. Die am Sattel befestigte Armbrust machte noch eine andere Funktion deutlich: Er sollte den Inquisitor schützen und wenn nötig für Gehorsam sorgen.
5. Die Reise beginnt
„Guten Morgen Narda!“ es war noch dunkel, aber Jando der Wundersame drängte zum Aufbruch. Sie stiegen in ein Boot, das am Ufer lag. Als sie mitten auf dem See waren, blickte das Mädchen zurück und stieß einen Schrei aus. Sie sah, dass die Fischerhütte in Flammen stand.
„So wird man dich nicht suchen! Wenn man sich auf neue Wege macht, muss man manchmal Brücken abbrechen.“
Narda fühlte eine Gänsehaut, aber wollte sich nichts anmerken lassen. „Erzähle mir etwas über diese Schule, über die Pythagoräer!“
„Geduld kleine Narda! Du wirst schon während unserer Reise viel lernen. Schau mal da herüber, am anderen Ufer!“
„Da ist ein Licht, nein, doch nicht. Da ist es wieder!“
„Dort werden wir erwartet. Kannst du dir denken, warum das Licht mal da ist, und mal weg?“
„Jemand verdeckt die Laterne immer wieder!“
„Ja, so ist es, aber warum tut er das?“
„Will er uns etwas sagen?“
„Genau! Man kann mit Licht Zeichen geben. Wenn du drauf achtest, siehst du, dass das Licht erst kurz aufleuchtet, dann lang und dann wieder kurz, das ist ein ‚r' und das vereinbarte Zeichen, dass alles in Ordnung ist.“
„Ein Buchstabe? Du meinst, man kann mit solchen Lichtblitzen ‚sprechen'?“
„So ist es Narda! Das ist nur eine von vielen Sprachen, die du lernen wirst!“
Das Boot erreichte das andere Ufer. Jando warf ein Seil einem Mann zu, der dort hockte. Erst als der sich erhob, merkte Narda, dass es ein riesiger, massig gebauter Kerl war. „Narda, das ist Borgun der Eiserne. Er ist in unserem kleinen Zirkus der Kraftprotz. Borgun, das ist Narda.“
„Zirkus?“ Einen Moment lang wollte das Mädchen zurück ins Boot springen. Was sie entführt worden, um in einem Zirkus zur Schau gestellt zu werden?
Der Riese lächelte. „Keine Angst Narda, das mit dem Zirkus ist nur Tarnung, damit wir ungestört reisen können. Du wirst bei uns viel lernen und du wirst auch ein paar Kunststücke einüben, damit man dich für ein Zirkuskind hält. Aber ich bin nicht nur der Kraftprotz hier, ich bin auch der Lehrer für Mathematik und Physik!“
„Hallo Borgun!“
Der Lehrer nickte, dann zog er das Boot an Land, als wäre es ein Spielzeug und warf ein paar Zweige darüber. „Lasst uns hier verschwinden, bevor es richtig hell wird.“
Er führte die beiden zu einer Waldlichtung, auf der die Gauklertruppe wartete. Jeder Einzelne stellte sich Narda vor und begrüßte sie:
Eine Lehrerin machte den Anfang: „Hallo Narda, ich bin Nerissa die Heilhand. Von mir wirst Du viel über Krankheiten lernen und wie man sie heilt.“
„Ich bin Bardo der Beredte. Ich werde dir beibringen, wie das Leben funktioniert. Bei mir wirst du dich anstrengen müssen, denn Fehler können gefährlich sein.“ Der Sprecher dieser Worte war noch jung.
„Mich kennst du ja schon“, sagte Jando, „meine Aufgabe ist es, dir beizubringen, wie man mit Menschen umgeht. Psychologie nennt man das. Aber jetzt wird es Zeit, aufzubrechen! Wir haben eine Verabredung.“
Narda verstaute ihr Bündel auf dem Karren, Jando schirrte den Esel an, dann ging es los. Über Trampelpfade und etwas besser ausgebaute Wege gingen sie mehrere Stunden. An einem Bach legten sie eine Rast ein.
„Es wird Zeit, dass wir dich ein bisschen besser verstecken!“ Nerissa kam auf Narda zu und gab ihr eine Flasche mit einer Flüssigkeit. „Rote Haare fallen auf! Verteil das in deinen Haaren, danach hast du dunkelbraune Haare. Wenn dich jemand fragt, bist du Jandos Tochter!“
Narda tat, wie ihr geheißen. „Jando sagte mir, dass ihr meine Mutter kanntet!“
„Ja, sie war eine gute Freundin und sehr klug!“
„Ich weiß fast nichts über sie. Kannst du mir was über sie erzählen?“
„Das werde ich, ganz sicher. Aber nicht jetzt, denn erst gibt es was zu tun!“
Der Zug setzte seinen Weg fort. Als es dämmerte, sahen sie vor sich hohe Mauern.
„Wo sind wir?“, fragte Narda.
„Das ist das Kloster Gotthilf. Wir haben hier eine Verabredung.“
Narda schauderte. Dies alles war so unwirklich. Sie wollte es nicht wahrhaben, aber etwas in ihr fürchtete, dass diese seltsame Gauklertruppe sie letztlich ans Kloster verkaufen würde.
„Wir warten hier, bis es richtig dunkel ist! Verhaltet euch ruhig!“ Jando sprach in geschäftsmäßigem Ton, aber er musste Nardas Sorge gespürt haben. „Keine Angst Narda, wir bringen niemanden her, wir holen jemanden ab!“
Eine Tür öffnete sich knarrend und ein Licht erschien, blitzte mehrmals auf. Jando ‚antwortete' mit seiner Laterne, dann kam jemand auf sie zu. Die Gestalt einer Frau schälte sich aus der Dunkelheit, neben ihr ein Kind.
„Das ist Finn der Wagemutige. Er ist 11 und ist hier nicht mehr sicher. Wir vertrauen ihn euch an!“ Die Nonne umarmte erst den Jungen, dann Jando und drehte sich um und schlich zurück zur Tür.
„Willkommen Finn!“ Die Gruppe zog sich tiefer in den Wald zurück, um die Nacht zu verbringen.
„Was hat das zu bedeuten?“ Narda konnte nicht schlafen und Jando antwortete ihr.
„Finn ist auch ein besonders kluges Kind, so wie du. Als die Hexenjäger ihn holen wollten, haben seine Eltern ihn als Mädchen verkleidet und ins Kloster gegeben. Das ging nicht lange gut, aber ein paar Mönche und Nonnen sind uns wohl gesonnen. Sie haben ihn so lange versteckt, wie es ging.“
Sie setzten die Reise fort. Die Kinder durften die meiste Zeit abwechselnd auf dem Esel reiten. Sie umgingen eine größere Stadt. In den Dörfern fanden sie stets Obdach und etwas zu essen.
„Schnell Kinder, unter die Decke!“ Jando fackelte nicht lang, hob Narda vom Esel und auf den Karren. Er hatte eine Kontrollstelle entdeckt.
Die Kinder warfen sich auf den Boden des Karrens und zogen die Decken über sich, die an den Seiten lagen. „Stehenbleiben, im Namen des Fürsten!“ hörten sie jemanden brüllen und sie spürten den Ruck des Wagens.
„Der Fürst lebe lang!“
„Wohin des Wegs?“
„Nach Brunswiek, Lumpen sammeln für das Kloster.“
„Wertsachen?“
Der Fuhrmann lachte gezwungen „sehe ich so aus?“
Ein Büttel hantierte an der Plane herum. „Dann fahr in Gottes Namen!“
Der Wagen setzte sich wieder in Bewegung. „Ihr könnt wieder vorkommen! Gut, dass ihr es sofort kapiert habt, aber deshalb seid ihr ja hier.“
„Wieso haben die uns nicht bemerkt?“, fragte Narda.
„Schau dir die Decken noch mal an.“
Das Mädchen tat wie geheißen und lachte: Die Decken waren so aus Stoffresten zusammengenäht, dass es wie ein Haufen Lumpen aussah.
Auf einer Lichtung machten sie Rast. „Kennt ihr die Bäume hier?“, fragte Nerissa.
Finn schüttelte den Kopf, aber Narda antwortete: „Das da ist eine Eibe, die ist giftig. Die Pappel kenne ich auch.“
„Richtig! Lasst uns ein Spiel draus machen: Narda, du zeigst Finn die Pflanzen und erklärst ihm, was er über sie wissen musst. Wenn Du es bei einem Baum nicht weißt, helfe ich weiter.“
Begeistert nahm das Mädchen die Aufgabe an. Aufgewachsen in einem Bauerndorf kannte sich gut aus, konnte aber beileibe nicht alles beim Namen nennen, was hier wuchs. „Was ist das?“
„Das ist Bilsenkraut. Daraus kann man Medizin machen und das wirst Du lernen.“
Sie zogen weiter. Die Sonne war schon am Untergehen, als sie die nächste Lichtung erreichten.
6. Die Spur
„Du hast gelogen!“ Im Ton von Ardins Worten lag kein Zweifel, es war einfach eine Feststellung. Sein Begleiter spannte die Armbrust.
Der Dorfpfarrer war erbleicht, er zitterte. „Verzeiht Herr, wir wollten damals das Beste für das Waisenkind. Für die Mutter hatten wir nichts mehr tun können, nur einen der Mörder hatten wir bestrafen können, aber dem Kind, dem konnten wir helfen.“
„Wo ist es?“
„Es ist tot, Herr, was wir getan hatten, war vergeblich. Das Mädchen ist von zu Hause ausgerissen. Wir haben Nardas Spur am nächsten Morgen verfolgt, bis zum See. Sie hatte in einer Hütte dort übernachtet und dort gab es ein Feuer. Nichts ist von ihr übrig geblieben.“
„Habt ihr Knochen von ihr gefunden?“
„Diese Behausung war aus Holz und es hatte wochenlang nicht geregnet. Sie muss wie Zunder gebrannt haben. Da war nur noch Asche. Wir fanden darunter aber ein Medaillon, das sie wohl ihrer Pflegemutter gestohlen hatte.“
Ardin glaubte ihm, Engelbert entspannte seine Waffe. Sie ließen sich den Weg zur Schmiede zeigen, befragten die Pflegeeltern und den Müller, bekamen aber keine anderen Auskünfte. Sie ließen sich die Stelle am See zeigen, wo die Hütte gestanden hatte. Einzig der Sohn des Müllers widersprach: Niemals hätte Narda etwas gestohlen, meinte er.
Diese Außenwelt war nicht ungefährlich, es starb sich leicht, durch Unfälle, Seuchen oder Gewalt. Aber Ardin wollte nichts unversucht lassen! Er wies Engelbert an, Proviant im Dorf zu requirieren, dann folgten sie dem Uferweg.
Sie ritten von Hütte zu Hütte, von Lippe zu Lippe. Ein junger Fischer mit abgefrorenen Ohren schwor, er habe in jener Nacht Ruderschläge gehört. „Leise, wie wenn einer kein Aufsehen machen will.“ Seine Gattin, eine hagere Frau mit scheuen Augen, fügte hinzu: „Und am nächsten Morgen fehlte unser zweites Netz. Nicht einfach so weg - es war durchgeschnitten.“
Ardin tauschte einen Blick mit Engelbert. Jemand hatte es eilig.
Weiter am Ufer entlang, wo der Schilfwald das Wasser verschluckte, trafen sie auf einen Kräutersammler. Der Mann roch nach Rauch und Bärlapp seine Finger schwarz von Asche. „Die Hütte? Die hat gebrannt wie Pech. Aber das Feuer… das kam von innen.“ Er zwinkerte ihnen zu, als stecke mehr dahinter. „Kein Wind, kein Blitzschlag. Da hat wer nachgeholfen.“
Die Sonne stand schon tief, als sie den letzten Fischer erreichten - einen breitschultrigen Kerl, der sein Boot flickte. Er war der Einzige, der nicht stotterte, nicht zögerte. „Schaut euch doch mal das Boot da drüben an!“ An der Stelle, auf die er zeigte, sahen sie nur einen Haufen Zweige, aber der Zeuge hatte recht, darunter war ein Ruderboot verborgen.
Ein Kind hätte das Boot nicht so weit aus dem See ziehen können. Das Boot konnte irgendeinem Wilderer gehören, aber es konnte auch Narda zur Flucht verholfen haben. Wenn das so wäre, war sie nicht allein, sondern hatte Helfer.
Engelbert fand Fußabdrücke und führte Ardin zu Resten eines Lagerplatzes. Es war nicht viel zu sehen, man hatte sich Mühe gegeben, aufzuräumen. Aber hier gab es Fußspuren von mehreren Menschen und von einem Huftier, Reifenspuren von einem Wagen oder Karren. Spuren, denen sie folgen konnten.
7. Eisenbrecher
Die Truppe rastete am Rand eines Wäldchens.
„Wir haben demnächst einen Auftritt“, sagte Borgun der Eiserne. „Kinder, ihr werdet mir dabei assistieren. Dazu müsst ihr wissen, wie es funktioniert.“
Er holte ein Hufeisen aus einem Kasten im Karren und zeigte es den Kindern, fasste die Enden mit beiden Händen, verzog das Gesicht, stöhnte und riss das Eisen in zwei Stücke. Dann hielt er beide Teile in die Höhe und verbeugte sich.
Borgun gab Finn ein Bruchstück, Narda das andere. Es waren massive, schwere und harte Eisenstücke. „Ich bin wirklich stark“, sagte er, „aber auch ihr könntet dieses Ding zerbrechen!“
Finn blieb der Mund offenstehen, Narda schüttelte den Kopf. Der Riese nahm die beiden Teile zurück, legte sie in die Kiste und holte ein ganzes Eisen heraus.
„Probier es mal!“ Er gab es Narda. Die ergriff die beiden Enden, zog mit aller Kraft daran und ihre Arme flogen auseinander.
Borgun lachte, während das Mädchen die beiden Enden wieder zusammenbrachte. Sie erschrak noch mal, als sie merkte, wie die Teile genau an der Bruchstelle zusammen schnappten.
„Ich weiß, wie das geht“, rief der Junge, „das sind Magneten!“
„So ist es Finn. Erkläre Narda doch, was du darüber weißt!“
Er tat wie ihm geheißen. An einigen Stellen half Borgun weiter. Danach erklärte er den Kindern, wie der Trick bei einem Auftritt laufen sollte:
„In der Kiste ist dieses magnetische Eisen, daneben ein normales, das hat eine Kerbe in der Mitte und zwei echte Bruchstücke. Finn, du holst das Hufeisen, wenn ich auf die Kiste zeige. Dabei tust du so, als wäre es viel schwerer, als es in Wirklichkeit ist, so als könntest du es kaum anheben. Dann gibst du es Narda und sie hält es hoch, tut natürlich auch so, als wäre das schwer. Dann gibst du es mir, Narda und ich breche es entzwei. Ein Teil gebe ich Narda, das andere Finn. Ihr geht mit den Teilen herum, zeigt sie den Leuten. Ihr müsst nur aufpassen, dass ihr dabei immer an verschiedenen Stellen seid und sich die beiden Stücke nicht berühren. Ihr trefft euch am Ende an der Kiste und legt die Teile gleichzeitig hinein, sodass sie zusammen schnappen.“
„Wozu sind die anderen Teile?“, fragte Finn.
„Wir können das Kunststück, wenn nötig, gleich noch mal zeigen, denn das Eisen ist ja wieder ganz. Aber wenn ein Zuschauer die Teile noch mal sehen will, hole ich die echten Bruchstücke heraus und zeige sie ihm. Wir können auch zuerst das echte Hufeisen zeigen und einer der Gäste kann versuchen, es zu zerbrechen, aber das wird dann komplizierter. Beim Auftritt im Dorf machen wir es ohne das.“
Sie probierten den Ablauf ein paar Mal. Beide Kinder beherrschten schnell ihre Aufgabe.
*
Am nächsten Tag erreichten sie ein Dorf namens Salzlingen. Nach kurzen Verhandlungen mit dem Dorfvorsteher durften sie auftreten. Bardo der Beredte trug eine Fabel vor, Nerissa ergänzte sie mit Gesang. Jando jonglierte mit Tüchern und Bällen, ließ Münzen verschwinden und wieder erscheinen. Zum Schluss trat Borgun auf. Er stemmte ein Wasserfass in die Höhe, verbog eine Eisenstange und gab schließlich den Kindern das vereinbarte Zeichen. Die Darbietung lief wie am Schnürchen und das Publikum wollte eine Zugabe sehen. Doch nun zeigte sich, dass die Kinder einen Fehler gemacht hatten: Sie hatten die Bruchteile direkt neben das echte Hufeisen gelegt und nun waren nicht nur die beiden Teile zusammen geschnappt, sondern das ganze Eisen hing mit dran. Um es loszuwerden, musste Finn mit beiden Händen in die Kiste greifen und dieses Gefummel fiel unangenehm auf.
Bardo schaffte es, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und die Darbietung zu retten. Die Kinder gingen zum Schluss mit Mützen herum und baten um Applausmünzen. Ein alter Mann warf ein Geldstück hinein und flüsterte dabei „das müsst ihr noch üben!“.
Nachdem das Publikum gegangen war, räumten die Gaukler zusammen. Borgun saß mit hängenden Schultern auf ein paar Steinen. Narda merkte ihm die Enttäuschung an. „Wir werden es üben!“, versprach sie, dann legte sie ihm eine Hand auf die Schulter und sang leise ihr Lied.
Jando trat hinzu. „Weißt du, was du da machst?“
„Ich weiß nicht, wie es funktioniert. Meine Mutter hat es mich gelehrt und ich habe gelernt, dass es Menschen hilft, wenn ich das tue. Sieh doch, Bardo geht es besser!“
In der Tat, der Riese sah wieder so kraftvoll aus, wie sie ihn kannten.
„Das, was du da tust, nennen wir Hypnose. Das ist etwas, was wir auch lehren, aber normalerweise erst, wenn die Schüler älter sind. Es ist eine sehr alte und mächtige Kunst!“
„Muss ich so lange warten?“
„Du kannst das schon sehr gut und das wird uns auf der Reise helfen. Ich werde dir noch andere Möglichkeiten beibringen, wie du Menschen beeinflussen kannst, und du wirst es auf unserer Reise wohl manchmal erleben, wie ich selbst so etwas tue.“
Sie verließen das Dorf und richteten sich am Waldrand ein Nachtlager ein. Narda hatte schon geschlafen, als ein Schrei ertönte:
„Da ist jemand!“ Es war Finn, er hatte eine Gestalt entdeckt, die sich vom Dorf her näherte. Auf den Ruf hin war sie verschwunden.
„Wir werden verfolgt, ich weiß“, sagte Jando.
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