21. Das Versteck
Bardo beschloss, dass Schnelligkeit mehr nützen würde, als Verborgenheit. Sie fuhren deshalb mit der Kutsche auf befestigten Wegen. Nur Städte mieden sie, für den Fall, dass Wachen informiert wären. Ihr Weg führte sie ins Gebirge bei Goselar.
„Wohin fahren wir eigentlich?“, fragte Narda und fügte hinzu: „Was hat es mit der Tanne auf sich?“
Bardo erklärte es: „Wir haben im Gebirge ein Versteck. Es liegt unter der Erde, genau wie Ardins Kloster. Wir verbringen dort auch meistens die Winterzeit. Es ist eine sichere Zuflucht.“
„Unter der Erde?“, Narda war verwundert, „ist das eine Höhle?“
„Nein, es ist ein künstliches Bauwerk. Niemand weiß, wer es geschaffen hat. Vielleicht war es einst so etwas wie ein Modell für ein unterirdisches Kloster. Unsere Vorgänger haben den Eingang entdeckt und sich eingenistet.“
„Ich habe kein gutes Gefühl dabei!“, Narda wandte sich an Ardin: „Weißt du etwas von solchen Orten?“
„Es gibt verlassene Klöster, das weiß ich. Sie wurden irgendwann zu klein und wurden aufgegeben. Ich habe nie davon gehört, dass es noch Verbindungen zu den großen Klöstern gibt, aber sicher weiß ich es nicht.“
Da war ein Zucken in Ardins Gesicht, das Narda Angst machte.
Bardo nutzte die Gelegenheit: „Ardin, Finn, Merten und Narda, ihr müsst bei eurem Leben schwören, dass ihr das Geheimnis dieser Zuflucht bewahrt. Egal, was passiert! Ihr werdet lieber sterben, als es zu verraten. Hebt die rechte Hand und sagt es: Ich schwöre es bei meinem Leben!“
Narda sprach den Satz als Erste aus, mit sicherer Stimme, Merten folgte, ohne zu zögern. Finn und Ardin schworen schließlich auch. Merten hatte seinen Arm um Nardas Schultern gelegt und sie kuschelte sich an ihn.
Finn wandte sich an Ardin, um ihn auszufragen, wollte wissen, wie die Mönche leben und was es mit der Kolonie auf Celtis Vier auf sich hat. Ardin erklärte ihm alles, was der Junge wissen wollte und bei dem Thema Kolonie schwärmte er regelrecht.
Auch Jando hörte sehr genau zu. Er erkannte das Bedauern in der Stimme des Inquisitors.
Die Fahrt war vorbei, der Weg wurde zu schmal und zu steil für die Kutsche. Borgun spannte die Pferde aus und schob das Gefährt zwischen die Fichten. Sie übernachteten am Waldrand und setzten die Reise am nächsten Morgen zu Fuß fort.
Der Meister führte sie am folgenden Abend zu einer Lichtung. Borgun räumte Gestrüpp beiseite und machte eine Rampe frei, die nach unten führte. Sie endete an einer metallenen Wand. Jando holte ein Rad aus einem hohlen Baum. Die kurze Achse dieses Rades steckte er in ein Loch in der Wand, dann überließ er Borgun das Feld. Bardo drückte auf einen Vorsprung an der anderen Seite der Wand. Borgun drehte das Rad nach links und ganz langsam tat sich eine Öffnung zwischen den beiden Stellen auf. Es war eine Tür, hoch und breit genug für eine Kutsche und ganz aus Metall.
Während Borgun kurbelte, erkundeten Merten, Finn und Narda die Umgebung. Tannen gab es hier nicht, aber reichlich Fichten. Dass in diesem Berg, unter diesem Wald, ein Bauwerk lag, war auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Das Mädchen entdeckte, aber dann doch, dass ein Teil der Bäume nicht echt war. Die Oberfläche der Stämme fühlte sich ganz anders an als jede Baumrinde. Dies waren Säulen, die aus dem Boden ragten, und davon gab es viele. Es schien fast jeder zweite Baum in diesem Gehölz etwas Künstliches zu sein und die Fläche, über die sie sich verteilten, reichte weiter, als die Drei übersehen konnten,
Als sie zurückkehrten, war das Tor zur Seite gekurbelt und sie konnten eintreten. Zu ihrer Verblüffung war es innen hell. Nicht das schummrige Licht von Kerzen oder Laternen, nein, der Raum war taghell erleuchtet. Und Raum war ein falscher Ausdruck, für das, was sie sahen: Es war eine Art Straße, die weiter nach unten führte. Die Kinder liefen, um die anderen einzuholen.
Die Truppe versammelte sich am Ende dieser Straße, in einer Halle mit mehreren Türen. Auch Nerissa und Engelbert hatten sich inzwischen eingefunden. Bardo öffnete eine der Türen und führte alle in einen Raum mit Dutzenden von Tischen und Stühlen. Wie durch Zauberei taten sich Schränke auf mit Bechern, Tellern und Schalen und alles sah aus, als wäre es für ein Königsschloss bestimmt. Seltsame Apparaturen ragten aus den Wänden. Jando nahm einen der Becher und hielt ihn unter eine solche Vorrichtung. Wasser floss in das Gefäß. Der Spaßmacher zelebrierte es wie ein Zauberkunststück. Für die Kinder war dies so etwas wie ein anderer Planet. Narda erinnerte sich an eines ihrer Bücher. Sie hatte von so etwas schon gelesen.
„Willkommen im Werk Tanne!“, verkündete der Meister, „macht es euch gemütlich!“
Narda fragte Bardo, wie all das funktioniert. Er räumte ein, das auch nicht genau zu wissen. Immerhin, die Pythagoräer hatten herausgefunden, dass die künstlichen Bäume an der Oberfläche die Energie lieferten.
Ardin hingegen schien sich wie zu Hause zu fühlen.
„So sah es früher im Kloster aus“, sagte er.
Jando zeigte Ardin und den Kindern die wichtigsten Teile der Anlage und erklärte ihnen, wie sich orientieren konnten. Es war absolut faszinierend, dass Türen sich von allein öffneten und Zimmer erleuchtet wurden, sobald man sie betrat. Der Gaukler ermunterte die Kinder, die Anlage selbst weiter zu erkunden. Sie war viel größer, als Narda geahnt hatte: Es gab Schlafsäle mit Dutzenden Stockbetten, aber auch einzelne Zimmer mit jeweils einem Bett, einem Tisch und einem Stuhl. Das Mädchen wusste inzwischen, dass der erste Raum, den sie gesehen hatte, ein Speisesaal war. Auch davon fanden sie Mehrere. Narda erkannte einen Raum als eine Krankenstation, andere Zimmer enthielten technische Einrichtungen, die keiner der Drei verstand. Viele Türen waren verschlossen, die Kinder erkannten aber kein Schlüsselloch. Daneben sahen sie dann immer eine Platte mit Ziffern darauf.
An einer Weggabelung schlug Finn vor, sich aufzuteilen, in verschiedene Richtungen auszuschwärmen: „Wir treffen uns bei Zentrale vier wieder.“
Die beiden anderen nickten. Narda ging nach links, Finn geradeaus und Merten rechts. Narda drehte sich nach einigen Metern um und kehrte zur Abzweigung zurück, vergewisserte sich, dass Finn außer Sicht war und folgte dann Mertens Weg. Sie holte ihn schnell ein, aber er war nicht allein. Finn war bei ihm und entschuldigte sich gerade. „Tut mir leid, ich hatte nicht daran gedacht, dass du ja gar nicht lesen kannst. Da solltest du besser nicht allein hier herumirren!“
„Ich hatte denselben Gedanken“, sagte Narda, „ich begleite Merten!“
Finn nickte still und ging zurück zur Abzweigung.
„Das war Absicht, oder?“, fragte Merten.
Sie nickte. „Bestimmt. Er macht sich Hoffnungen und hasst es, wenn wir beide zusammen sind!“
„Das ist nicht gut“, antwortete Merten, „wir sollten alle zusammenhalten!“
Narda antwortete zögernd, „Ja, aber Menschen haben manchmal Gefühle, die das schwer machen. Am besten, du stellst dich ein bisschen dümmer, als du bist. Finn muss nicht wissen, dass ich dir das Lesen beigebracht habe! Sollte es nötig werden, kannst du ihn damit überlisten.“
Sie umarmten sich, genossen die Nähe und Wärme, die sie einander geben konnten. Nach ein paar Minuten der Innigkeit gingen sie Hand in Hand weiter. Bei ihrer Erkundung stießen Sie auf verschlossene Türen, jeweils mit der Aufschrift „Technik“ und einer Nummer. In anderen Räumen fanden sie Reihen von Tischen und Stühlen und auf den Tischen jeweils einen Kasten mit glatter, glänzender Oberfläche sowie ein Feld aus Buchstaben und Zahlen.
Sie kehrten zurück zur Abzweigung und der Tür von „Zentrale vier“, wie ein Schild verriet. Auch in diesem Zimmer standen Tische mit den seltsamen Kästen. Als Narda und Merten eintraten, sahen sie Finn, der auf eine Wand starrte. Dort war eine Schrift erschienen:
„Willkommen, was kann ich für dich tun?“
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